«Wir werden alle sterben!»

Ein Flugangstseminar hilft vielen. Aber nicht allen.

«Ich muss raus», flüstert Luca. Er sitzt zusammengekauert und dünn in seinem Sitz, die Finger in die Armlehnen gekrallt. «Ich muss raus aus dem Flugzeug», sagt er nochmals, atmet schneller, Schweiss tritt auf seine Stirn. Kathrin, Kursleiterin und Flugbegleiterin, eilt nach vorne zur Crew. Torsten, Psychologe und ebenfalls Flugbegleiter, sagt mit ruhiger Stimme: «Luca, atme tief durch. So, wie wir es gestern in der Gruppe geübt haben.» – Kathrin kommt zurück: «Schon abgedockt.» Luca beginnt zu zittern. «Ich will RAUS!» Da huscht eine Flight Attendant heran: «Das ist doch absolut kein Problem», nickt Kathrin knapp zu. Kevin weint und verlässt das Flugzeug. Der Rest der Gruppe schaut ihm hinterher. Die normalen Passagiere des Flugs nach London City wenden sich wieder ihren Zeitungen zu. Das Flugzeug rollt an.

Der Tag zuvor: Theorie

Flugangstseminar bei einer grossen Fluggesellschaft. Diese zweitägige Veranstaltung bucht, wer sich anders nicht mehr zu helfen weiss. 16 Prozent aller Passagiere haben Angst beim Fliegen, sagt die Statistik, 22 Prozent fühlen sich unwohl dabei. Der Kursleiter notiert die Ängste seiner Klienten: Turbulenzen. Ausgeliefert sein. Gewitter. Absturz. Dann fragt er die sechs Männer und acht Frauen nach ihren Traumzielen. Kursleiterin Kathrin heftet Zettel auf eine Weltkarte: Alaska. New York. Indonesien. Tel Aviv. – Keiner kann sich vorstellen, seins je zu erreichen.

«Die Ursachen für die Flugangst liegen bei jedem woanders», sagt Michael Rufer von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Zürich. «Angst ist sehr komplex.» Oft sind es schlimme Erlebnisse, die Flugangst verursachen. Die Kursteilnehmer erzählen, wie sie Blitzeinschläge und schwere Turbulenzen aushalten mussten. Oder Notlandungen: Als Private Banker gehört das Fliegen zu Alains Beruf, es hat ihn nie gekümmert. Bis neulich auf dem Weg von Zürich nach Hamburg plötzlich die Sauerstoffmasken von der Decke fielen. Druckverlust in der Kabine. Er schloss mit seinem Leben ab, während der Pilot den Sinkflug einleitete.

Flugangst kann einen aber auch ohne traumatisches Erlebnis plötzlich überkommen: Ein Moment der Reflexion kann reichen, irgendwann beim Überqueren des Ozeans, und es wird einem bewusst, dass man sein Leben in die Hände eines Piloten und fehlbarer Technik gelegt hat. «Aber es braucht eine gewisse Disposition, damit jemand Flugangst entwickelt», sagt Bettina Schindler, Psychologin und spezialisiert auf Flugangst. «Nicht jeder, der einen turbulenten Flug durchmacht, will nachher nie mehr in ein Flugzeug steigen. Aber Menschen, die per se ängstlich sind, oder die nicht gern die Kontrolle verlieren, können aufgrund eines einzelnen Erlebnisses in eine Abwärtsspirale aus quälenden Ängsten geraten.» So erging es vielleicht auch Luca, dem dünnen, jungen Mann in der Runde, der nicht sagen kann, woher seine Angst kommt. Er nennt Australien als Traumziel. «Meine Eltern waren dort. Es sei so schön.»

Das bringt doch alles nichts

Für die 20 Prozent, die sich beim Fliegen nicht so wohl fühlen, dürften gängige Tipps durchaus hilfreich sein: «Sitzen Sie vorne, dort spüren Sie Turbulenzen weniger.» – «Machen Sie Entspannungsübungen.» – «Vertrauen Sie darauf, dass das Fliegen sicher ist.» – «Lenken Sie sich ab.» Vertrauen? Ablenken? Entspannen? Leute wie Luca oder Alain lachen ob solchen Sätzen. Reto hat von seinem Arzt Narkosemittel erhalten, damit er fliegen kann. Lena hat solche Angst vor Turbulenzen, dass sie seit drei Jahren nicht mehr bei ihrem kranken Vater in Tel Aviv war. Die Angst ist stärker als die Sehnsucht. Rosmarie hat bei Crashs Bekannte verloren. Einen in Halifax, einen anderen in Polen. Wenn sie ihren Sohn sehen will, der in Kopenhagen lebt, steigt sie in den Zug: «Ich war 23 Mal da. Das heisst, ich habe über 3 Monate in der Deutschen Bahn verbracht.»

Wenn Flugangst-Patienten doch mal einen Flug buchen, sitzen sie schwitzend in der Maschine, überzeugt davon, dass es genau dieser Flug sein werde, über den die Zeitungen am nächsten Morgen berichten. Sie schämen sich dafür, fürchten, ihre Sitznachbarn zu stören, weil sie zittern, ständig aus Klo müssen oder zu weinen anfangen. Das müsste alles nicht sein. Das Flugzeug ist das sicherste Verkehrsmittel. Auf den Strassen sterben pro Jahr sehr viel mehr Menschen. «Das wissen wir längst», meint Alain. Die Männer und Frauen im Seminar wissen alles, was die Statistiken zum Fliegen sagen. Aber beruhigen kann es sie nicht.

Dann kommt der Pilot

Die Tür zum Kursraum geht auf. Die Frauen setzen sich gerade hin. Konstantin, der Pilot ist da. Er erzählt nun alles übers Fliegen, was ein Laie wissen muss: Wie streng die Ausbildung ist. Dass man das Fliegen im Gefühl haben muss. Dass die Ausbildung nie zu Ende ist: Jeder Pilot sitzt zweimal pro Jahr im Flugsimulator. Dort übt er Landeanflüge unter schwierigen Bedingungen. «Wenn du nicht gut genug bist, gehst du die nächsten paar Tage nicht in die Luft, sondern trainierst.» Er zeichnet den Querschnitt eines Flügels aufs Whiteboard, erklärt das Prinzip des Auftriebs. Der Filzstift fällt ihm runter. Er sagt: «Sobald die Maschine den Boden verlassen hat, kann ihr praktisch nichts mehr geschehen. Da oben ist sie in ihrem Element.» Luca sitzt krumm da und lächelt seine Sitznachbarin an. Sein Blick sagt: «Und das soll ich glauben?»

Am Nachmittag geht’s hinaus auf die Piste und rein in einen Airbus. Der Pilot muss tausend Fragen beantworten: «Wo sind die Tanks?» – «In den Flügeln. Es sind sechs grosse Kunststoffblasen.» «Können Flügel abbrechen?» – «Soviel Kraft können Winde gar nicht entwickeln. Nicht mal Hurrikans.» «Wo sind die Bremsen?» – «Am Fahrwerk. Den Rest machen wir mit Umkehrschub.» «Wie grosse Vögel verträgt so ein Triebwerk?» – «Alles bis Pouletgrösse geht durch. Aber wir können auch ohne laufende Triebwerke landen.» «Wer macht die Wartung?» – «Jede Airline hat ihre Teams auf den Flughäfen. Wenn wir nach Neu Delhi fliegen, haben wir dort Leute, die sich um die Maschine kümmern.»

Stefan und Reto setzen sich auf die Sitze von Captain und Copilot und spielen mit den Knöpfen und Schaltern. «Ist das der künstliche Horizont? Ist das der Höhenmesser? Was machst du, wenn der ausfällt?» – «Dann hab ich noch einen zweiten. Alle wichtigen Geräte sind doppelt vorhanden. Wir nennen das die Redundanz des Flugzeugs.» Da und dort ein Nicken. Skepsis beginnt Faszination zu weichen. Aber nicht bei allen.

Der zweite Tag: Der Flug

Heute werden sie fliegen. «Wo bleibt Luca?» – «Er war doch gestern schon zu spät», sagt seine Sitznachbarin. Der Kursleiter verteilt rote Kärtchen. Bestimmt für negative Gedanken und den Abfallkorb. Es folgen blaue Kärtchen für positive Formulierungen. Viele bleiben leer. Zum Abschluss gibt’s Entspannungsübungen, die Kursteilnehmer schliessen die Augen, atmen geräuschvoll, wachen wieder auf und lächeln. Und dann geht’s zum Flughafen.

Rosmarie und Lena tauschen zweimal die Sitzplätze. Reto entspannt sich. Und Luca verlässt das Flugzeug. Der Captain begrüsst die Passagiere an Bord der Maschine nach London. Alain schliesst die Augen, als die Flight Attendants die Safety Instructions hinter sich bringen. Der Kursleiter ermahnt seine Gruppe: «Tief atmen!» Der Captain erklingt: «Cabin Crew: Take off in two minutes.»

Das Flugzeug hebt ab. Es rumpelt: «Das Fahrwerk!» Die Kursteilnehmer wissen jetzt Bescheid. Die Maschine legt sich in die erste Kurve und wankt. «Jetzt fliegen wir mit 80 Prozent Schub!» Das Flugzeug heult auf. «Da, die Klappen, die die Flügel verlängern, werden eingefahren. Darum das Heulen.» Früher wären sie bei diesem Geräusch zusammengezuckt. Aber jetzt, mit den Erklärungen des Piloten, sind die Geräusche und Bewegungen erklärbar. Das beruhigt. Bald ist die Reisehöhe erreicht. «Jetzt reduziert er den Schub, merkt ihr?», fragt der Kursleiter. Reto hat auf seine Narkosemittel verzichtet und spielt ein Computerspiel. Die Frauen lachen. Alain weint; die Sauerstoffmaske aus den Safety Instructions hätte er nicht gebraucht.

Nach einer sanften Landung und 20 Minuten Aufenthalt in London folgt bereits der Rückflug. Manche schlafen ein. Und später im Seminarraum klopfen sie einander auf die Schultern, Torsten schenkt Prosecco ein. «Auf euch! Ihr könnt stolz sein! Und wie wir immer sagen: To many happy landings!» Die Gruppe hebt die Gläser: «Auf das Fliegen!» – «Und auf Luca», fügt seine Sitznachbarin leise hinzu.

Zurück