Aber sie ist stärker

«Men» ist eine faszinierende Zumutung. Eine Mischung aus Horror und Surrealismus über übergriffige Männer, die alle Erwartungen unterläuft

Harper (Jessie Buckley) will sich scheiden lassen. Aber das überfordert ihren besitzergreifenden Mann so sehr, dass er ihr droht, sie schlägt und sich schliesslich vom Balkon ihrer Londoner Wohnung in den Tod stürzt. Das Bild, wie er mit zerbrochenen Beinen und vom Gartenzaun aufgeschlitztem Unterarm auf dem Trottoir liegt, brennt sich in Harpers Gedächtnis ein. Auch sein Blick, aus dem der Vorwurf zu blitzen scheint: «Schau nur, zu was du mich getrieben hast!»

Um sich zu erholen, zieht Harper sich in ein Dorf auf dem Land zurück, wo sie von einem Mann namens Geoffrey (Rory Kinnear), ganz paternalistischer Gentleman, ein Landhaus mietet. Ab und an skypt Harper mit ihrer besten Freundin und versichert ihr, alles sei in Ordnung. Aber das ist es nicht. Die Erinnerung an die letzten Stunden ihrer Ehe blitzen in ihrem Gedächtnis auf. Regisseur Alex Garland zeigt sie in Bildern, die in schweres gelboranges Licht getaucht sind.

Und da sind diese seltsamen Männer. Einer steht nackt auf einem Feld und beobachtet Harper. Zuerst von weitem, dann steht er plötzlich in ihrem Garten. Das Publikum sieht ihn, aber Harper bemerkt ihn noch nicht. Dieses Gefühl der Bedrohung, das man aus Horrorfilmen kennt, steigt in einem hoch: Das Haus, Harpers vermeintlicher Rückzugsort, ist nicht sicher.

Ein zweiter dieser «Men» ist Pastor. Er hört ihr zunächst voller Anteilnahme zu, legt ihr tröstend die Hand aufs Bein, aber dann schiebt er ihr – besessen vom biblischen Bild des Weibs als böser Verführerin – die Schuld am Tod ihres Mannes zu. «Fuck off!», flucht Harper und läuft davon. Später, wenn er – als einer von mehreren aus dem Dorf – in ihr Haus eindringt und auf Harper losgeht, überkommt den Kirchenmann seine ganze zölibatär unterdrückte Lust, und er will sie vergewaltigen. Aber sie hat ein Messer.

Das minderwertige Weib

Ob der Pastor, der Vermieter, der nackte Stalker oder der gerufene Polizist, der diesen verhaftet; ob der Wirt oder auch alle Gäste in dessen Pub: Sämtliche Männer in diesem Dorf werden von Rory Kinnear gespielt. Mal mit Bart, mal ohne, mal mit Glatze, mal mit langen Haaren. Einmal wird sein Gesicht computertechnisch auf den Körper eines Buben gesetzt, der Harper eine «blöde Hure» nennt, weil sie nicht mit ihm Verstecken spielen will.

Dass sie alle dasselbe Gesicht haben, ist eine Gegebenheit innerhalb der Filmrealität, nichts, das Harper irritieren würde. Es ist ein Stilmittel, lesbar als Metapher für Variationen von stereotypen männlichen Verhaltensweisen, mit denen Harper im Lauf ihres Lebens ihre Erfahrungen gemacht hat. Sie trug diese unbewusst in sich und wird jetzt von ihnen eingeholt, nachdem ihr Ehemann sie mit seinem Selbstmord dafür bestrafen will, dass sie ihm die Liebe nicht mehr geben konnte, von der er glaubte, sie stehe ihm zu.

Anders als in Alex Garlands bisherigen Regiearbeiten – «Ex Machina», «Annihilation» und «Devs» – geht es in «Men» nicht um Science-Fiction und Futuristisches, sondern um die Abgründe von Traditionen. Um ­Historisch-Rückständiges. Um die als selbstverständlich geltende Minderwertigkeit von Frauen, die über die Jahrhunderte festgeschrieben wurde von scheinbar selbst­verständlich überlegenen Männern. Garland lässt diese die eigene Überlegenheit demonstrieren durch Muskelkraft, so wie Harpers Ehemann. Durch sexuelle Übergriffigkeit, wie es Stalker und der Priester versuchen. Und in jeder Szene durch Worte. Mal über direkte Beleidigungen, manchmal über paternalistisch bevormundende Freundlichkeit, hinter der sich Herablassung verbirgt.

In Elementen von Horror und Surrealismus manifestiert sich dieses lähmende Gefühl der Ohnmacht angesichts von solchem Verhalten. Aber Alex Garland ist auf Harpers Seite. Er lässt die Männer auffliegen, indem sie bei ihm pausenlos ihre vermeintliche Überlegenheit demonstrieren, gibt er die Figuren einer Lächerlichkeit preis. Diese ist ihnen selbst nicht bewusst, weil ihr Selbstbild sie an der Selbstreflexion hindert. Der Stumpfste von allen ist Harpers Ehemann. Diese Thematik ist typisch für Garland, der regelmässig aus der Sicht von Frauen und von erbärmlichen Männern erzählt: In «Ex Machina» scheitert das IT-Genie Nathan (Oscar Isaac), Schöpfer des humanoiden Roboters Ava (Alicia Vikander), an seiner Hybris. In der Serie «Devs» geht der Entwickler eines Quantencomputers an seiner Unfähigkeit zu trauern kaputt.

Rätsel muss man deuten

«Men» ist ein Labyrinth, ein Rätsel, das man für sich deuten muss. Das beim Nachdenken immer mehr Form annimmt, weil man erst die Bilder verarbeiten muss – insbesondere das unbeschreibliche Ende. Dann erst setzt sich im Kopf zusammen, wie brillant Garland mit der Kraft von Bildern und Andeutungen umzugehen weiss. Er lässt Leerstellen, die man selbst füllen muss, statt uns zu behandeln wie unmündige Kinder, denen man alles erklären und didaktisch eine Moral von der Geschichte vermitteln muss.

Für manche wird «Men» ein Film über toxische Männlichkeit sein. Für andere erzählt er von Gewalt in Beziehungen. Oder eine Geschichte von Selbstermächtigung und der Bewältigung eines Traumas, zugefügt durch einen Mann. Es sind unsere eigenen Erfahrungen, mit denen wir narrative Leerstellen füllen, die kompromisslose Regisseure wie Alex Garland uns zumuten.

 

(Zuerst erschienen am 10. Juli 2022 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Ascot Elite)

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