Alpen-Schnüffler

Polizist Kägi aus «Wilder» ist ein Outlaw im Dienst des Systems. Wir lieben ihn, weil er unsere heimliche Sehnsucht nach Exzentrik bedient.

Dieses Gesicht, Kägis Gesicht. Was für ein Leben muss das gewesen sein, das diese Falten und Furchen in die Haut hineingegraben hat? Was beugt Kägis Rücken? Der Bundespolizist aus der SRF-Serie «Wilder» sieht in der dritten Staffel aus wie ein müder Raubvogel. Die Knochen werden spröde, die Kraft lässt nach, aber er muss weiterjagen nach denjenigen, die Leid über die Menschen bringen.

Diesmal ist es ein Serienmörder, ein Rächer. In Kägis Gesicht steht, dass er das alles schon gesehen hat. Wann und wo, das verrät er nicht. Er ist verschwiegen. Niemand weiss genau, woher er kommt, was ihn umtreibt und was er als Nächstes tun wird. Aber wenn es sein Gerechtigkeitssinn verlangt, ignoriert er das Gesetz, um ans Ziel zu kommen.
Darin gleicht er Figuren wie Luther (Idris Elba) aus der gleichnamigen BBC-Serie. Oder Saga (Sofia Helin) aus «The Bridge» und unzähligen anderen Ermittlern, die aufrichtig sind, sich aber doch am Rand des Gesetzes bewegen. Es sind Detektive nach dem Vorbild von Raymond Chandlers Philip Marlowe: Einzelgänger und schwer zu deuten, ohne Familie, aber mit Alkohol- oder anderen Drogenproblemen, Melancholiker, die sich mit obsessivem Arbeiten von der existenziellen Leere ablenken.

Markus Signer spielt seinen wortkargen Polizisten mit nachlässiger Eleganz und einer Zurückhaltung, die fast aussieht wie Gleichgültigkeit. Kägi steht da, schaut aus seinen tiefliegenden Augen und sieht dabei aus, als ob er alles schon durchschaut hätte. Nur seinem Gegenüber zuliebe stellt er sich noch eine Weile dumm.

Neben ihm wirken etliche seiner Kollegen wie Schauspielschüler. Sie wollen gut sein. Signer will gar nichts, er ist einfach da und schaut. Wie sehr er allein mit seinem Blick spielt, versteht man in einer Sequenz der neuen «Wilder»-Staffel, als ihm jemand die Augen verbindet: Er wird beinahe austauschbar.

Einer wie Mickey Rourke

Niemand könnte Manfred Kägi besser spielen als Marcus Signer, der Berner Schauspieler, der von der Bühne kommt und 2011 auffiel in «Mary & Johnny» von Samuel Schwarz. Seine Hauptrolle in «Der Goalie bin ig» von Sabine Boss brachte 2014 den Durchbruch. Da war er 50 Jahre alt. Signer ist einer der ganz wenigen Schweizer Schauspieler, die so charismatisch sind, dass sie eine Szene durch blosse Anwesenheit dominieren.

Seine Filmkarriere hätte schon in den 90er Jahren beginnen können, als er an der Seite von Bruno Ganz, Barbara Auer und Christiane Paul spielte. Aber da er sich keinen Agenten nahm, weil er glaubte, er brauche keinen, drehte sich die Filmwelt ohne ihn weiter. Signer konzentrierte sich auf die Bühne, wo er herkam, schlug sich mit Werbung durch, ständig fehlte das Geld, er wurde sogar betrieben. Man stellt sich seine Existenz vor wie die des «Goalie»: ein «lieber Siech», der in Dummheiten reinläuft, es aber nicht böse meint. Er hat sein Leben einfach nicht im Griff.
Pierre Monnard, der bei Staffel 1 und 2 von «Wilder» Regie geführt hat, vergleicht Signer mit Gérard Depardieu und Mickey Rourke: «Er ist schön, und doch nicht. Man sieht, dass er alles erlebt hat, von Glück bis Trauer. Man liest ein ganzes Leben ab in diesem Gesicht.» Signer habe sehr viel von sich selbst in den Kägi gesteckt. Vor allem die Sprache: «Er ist ein Wortkünstler, ein Connaisseur des Berndeutschen», sagt Monnard. «Er hat Aussprüche gebracht, auf die niemand sonst gekommen wäre.»
Wie Kägi lebt auch Signer zurückgezogen. Er ändert immer wieder einmal seine Telefonnummer, mit ihm befreundet zu sein, sei schwierig, sagen solche, die mit ihm gearbeitet haben.

Endlich ein richtiger Detektiv

Als «Wilder» 2017 anlief, war es, als ob man das Land aufatmen hörte: Endlich hatte auch die Schweiz einen echten Detektiv gefunden. Einer, der nichts gemein hat mit den «Tatort»-Ermittlern, die ihre Zeilen aus routiniert geschriebenen Drehbüchern aufsagen.

Während Rosa Wilder (Sarah Spale) dem von «Kommissarin Lund» definierten Bild der alleinerziehenden Mutter und Polizistin realistische Züge verleiht, funktioniert Kägi eher als prototypischer einsamer Wolf. Und wir lieben ihn, diesen geheimnisvollen Mann, weil er unsere Sehnsucht nach der Flucht vor dem Alltag befriedigt. Obwohl er ja kein echter Rebell ist, sondern eingebettet: Er arbeitet für die Polizei. «Er ist ein Anarchist innerhalb des Systems. Das macht ihn ziemlich schweizerisch», sagt Pierre Monnard.

Das Vorbild für die Figur sei der «Lonesome Cowboy» gewesen, sagt er. Ein Cowboy wie Lucky Luke, daher seine Stiefel. Einer, der wie der Comic-Held aus dem Nichts auftaucht und sich nach getaner Arbeit in Richtung Sonnenuntergang davonmacht – mit Auto und Wohnwagen statt auf dem Pferd. Wenn Kägi rauchend und im langen Mantel vor seinem Wohnwagen steht, erinnert er zudem an den Marlboro-Mann, an den Mythos von Freiheit und Unabhängigkeit, die uns die berühmte Werbung von damals vorgelogen hat.

Kägi erweist sich als Kombination von Versatzstücken aus verschiedenen ikonischen Figuren der Pop-Kultur, von Figuren der Pulp-Fiction über Revolverhelden aus Ennio-Morricone-Filmen bis zum stoischen Kettenraucher. Darum umgibt ihn eine Aura von Freiheit und Rebellion.

Somit bietet sich dieser Aussenseiter an als Projektionsfläche für Gefühle und Sehnsüchte, die wir Schweizerinnen und Schweizer besonders ausgeprägt spüren, gerade weil wir sie uns verbieten. Zwar legen wir Wert auf unseren Individualismus, leben ihn aber nur innerhalb eines abgesteckten Rahmens aus.

Wenn wir Kägi in der Realität begegnen würden, würden wir ihm aus dem Weg gehen, irritiert von diesem zerfurchten Gesicht, seinem schweren Blick und seiner Schweigsamkeit. Echte Exzentrik macht uns nervös.
 
 
Zuerst Erschienen: 9. Januar 2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Pascal Mora/SRF)

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