Als der Terror live ging
Das diesjährige Filmfestival Venedig beschäftigt sich viel mit der Vergangenheit – selten mit Gewinn. Eine der Ausnahmen: der Thriller eines Baslers.
Festivaldirektoren versprechen gern, das Kino biete die Gelegenheit für eine vertiefte Reflexion der Gegenwart. Auch Alberto Barbera, Direktor des Filmfestivals Venedig. Nur – das Programm beschäftigt sich ausgiebig mit der Vergangenheit: mit den Weltkriegen, den fünfziger, siebziger, neunziger Jahren, mit Figuren wie Benito Mussolini, Leni Riefenstahl, John Lennon und Yoko Ono, dem Architekten und Holocaustüberlebenden László Tóth (gespielt von Adrien Brody), mit Maria Callas (gespielt von Angelina Jolie, die aber zu berühmt ist für diese Rolle und darum aussieht wie Jolie, verkleidet als Callas). Schon der Eröffnungsfilm signalisierte Rückbesinnung auf das gute Alte mit «Beetlejuice» 2 von Tim Burton. In ein paar Tagen folgt «Joker» 2.
Der Rückzug in die Gewissheiten der Vergangenheit ist oft langweilig, es sei denn, man kehrt nach dem Film mit Fragen im Kopf in die Realität zurück, Fragen, die mit dieser Realität zu tun haben. So geschieht es mit dem Thriller «September 5» des Baslers Tim Fehlbaum. Er erzählt in seinem dritten Spielfilm vom Anschlag der palästinensischen Terrororganisation «Schwarzer September» auf das israelische Team bei den Olympischen Spielen in München 1972.
Man kennt die Fernsehbilder der Terroristen mit der Wollmaske über dem Gesicht. Aber wer hat sie gemacht? Es waren Sportjournalisten des US-Senders ABC um Roone Arledge (Peter Sarsgaard) und Geoff Mason (John Magaro). Es war die erste Live-Übertragung eines Terroranschlags. Fehlbaum zeigt in atemlosem Tempo die Arbeit der Reporter von den frühen Morgenstunden, als sie in ihrem Studio im Fernsehturm die ersten Schüsse hörten, bis tief in die Nacht, als die Geiselnahme in einem Blutbad endete. Sie jagen nach Informationen, positionieren Kameraleute möglichst nah am Geschehen und schmuggeln deren Aufnahmen aus dem abgeriegelten Gelände ins Studio. Das Schwierigste für das Team ist, Informationen zu verifizieren. Ohne ihre deutsche Übersetzerin Marianne (Leonie Benesch) wären sie verloren.
Weitersenden, obwohl Geiseln erschossen werden?
Damals arbeitete man noch analog und darum viel langsamer, aber die Fragen waren die gleichen wie heute: Wie wird Wirklichkeit abgebildet und durch die mediale Vermittlung wiederum geschaffen? «September 5» dreht sich um die Verantwortung von Medienleuten, den 900 Millionen am Bildschirm nichts Falsches als wahr zu vermitteln. Sie müssen schnell entscheiden: Darf man Wartezeit mit der Übertragung von Wettkämpfen überbrücken? Soll man weitersenden, wenn Geiseln erschossen werden? Die einen finden: Ja, Scoop! Die anderen: Nein, die Familien würden zuschauen. Die gelte es zu schützen.
Warum wollte Fehlbaum ausgerechnet diesen bekannten Stoff verfilmen? Der Dokumentarfilm «One Day in September» von Kevin Macdonald hat damit zu tun. Fehlbaum hat ihn 1999 gesehen und nie mehr vergessen. Und nach seinen beiden Science-Fiction-Filmen «Hell» und «Tides» habe er Lust gehabt auf etwas ganz anderes, meint er. Macdonald ist ebenfalls in Venedig. Mit «One to One: John & Yoko», einem Dokumentarfilm über das berühmte Paar, das sich, neu in New York, fernsehend über die amerikanische Kultur weiterbildet und sich aktivistisch zu betätigen beginnt. «One to One» ist pure Nostalgie, eine Zeitkapsel. Im Gespräch bestätigt sich der Eindruck, dass Macdonald den bewunderten John Lennon würdigen wollte. Für «One Day in September» hingegen hatte er Entscheidungen zu fällen wie die Journalisten in «September 5». Soll er Bilder der erschossenen Terroristen zeigen oder nicht? «Das war kontrovers», sagt er. «Manche der Familien von Opfern wollten, dass man sie sieht. Manche waren dagegen. Das war sehr schwierig für mich.» Er entschied sich dafür.
Wirklichkeit oder Fiktion
Die Frage nach dem Fokus beschäftigte auch Fehlbaum. Ursprünglich wollten er und sein Autor aus verschiedenen Perspektiven erzählen: jener der Polizei, der Sportler, der Medien, der Terroristen, der Politiker. «Aber das war zu gross, das hätten wir nie finanziert bekommen», sagt er. Schliesslich war es das Gespräch mit dem ABC-Journalisten Geoffrey Mason, das sie dazu brachte, sich auf die Medien zu konzentrieren. So ist ein Kammerspiel aus dem Kontrollraum entstanden, dicht, ohne Schnörkel. So dicht aber, dass es ab und an so wirkt, als ob alles zu glatt liefe. Wie oft, wenn journalistische Arbeit im Kino gezeigt wird.
Die Reporter wollten die Ereignisse so genau wie möglich abbilden. Und wie akkurat ist der Film selbst? Fehlbaum liess alles an Gerätschaften auftreiben, was es aus den 1970ern noch gibt. Etwas vom Wichtigsten waren ihm die Originalaufnahmen des Moderators Jim McKay. «Ihn nachzustellen, wäre sehr schwierig gewesen», sagt er. «Es war so einzigartig, wie er mit einer Mischung aus Professionalität und Emotionalität berichtet, weil auch er überrumpelt ist von den Geschehnissen. Die Wirklichkeit und unsere Inszenierung sollten miteinander verschmelzen.»
Ist die Übersetzerin Marianne real oder dem Trend geschuldet, in historischen Erzählungen Frauen auf Positionen zu hieven, die sie damals gar nicht innehaben konnten? Marianne, sagt Fehlbaum, sei eine Mischung aus verschiedenen Figuren und dramaturgisch von besonderer Bedeutung: «Es waren die ersten live übertragenen Spiele und die ersten seit 1936 auf deutschem Boden. Das Land wollte sich als das neue, liberale Deutschland präsentieren. Deshalb gab es keine bewaffneten Sicherheitsleute. Da geschieht dieser Anschlag. Das Schlimmste, was denkbar war.»
Für Fehlbaum geschieht gegenwärtig eher das Beste, was denkbar ist: ausverkaufte Premiere, auf dem roten Teppich baten Fans um Selfies und Autogramme. Nächste Station: das Telluride-Festival in den USA. Was der Schweizer in Venedig präsentiert hat, ist übrigens kein Schweizer Film, sondern eine deutsch-amerikanische Produktion. Einer der Koproduzenten heisst Sean Penn.
Erschienen am 1. 9. 2024 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Constantin Film