Amazons nackte Angst
Wer entscheidet, was zeigbar ist? Manchmal einzelne Menschen, immer öfter Tech-Firmen im Silicon Valley. Das führt zum Verlust von Werken und zum Zwang zur Selbstzensur.
Asterix und Obelix verprügeln keine Römer mehr auf RTS. Das Westschweizer Fernsehen hat Filme mit Gérard Depardieu aus dem Programm genommen, nachdem neue Anschuldigungen gegen ihn erhoben worden waren wegen sexueller Übergriffe und vulgärer Kommentare über Mädchen in einem Dokumentarfilm.
RTS zensiert Depardieu, ohne auf die Unschuldsvermutung zu achten. Während ältere Angehörige der französischen Kulturszene und auch der Präsident Emmanuel Macron den Schauspielstar gegen die «Hetzjagd» verteidigen, die gegen ihn im Gange sei, stellt sich die jüngere Generation auf die Seite der Frauen, die Depardieu der Übergriffe beschuldigen.
Ob wohl überhaupt jemand bemerkt hätte, dass RTS Depardieu zensiert, hätte der Sender nichts gesagt? Wer Filme mit dem Beschuldigten sehen will, kann diese online schauen, wo immer man sie findet. Im Streaming-Zeitalter haben Fernsehsender als Gatekeeper keine Macht mehr.
Aufforderung zur Selbstzensur
Die Digitalisierung hat zu mehr Freiheiten geführt, was den Zugang zu Filmen, Musik oder überhaupt Information angeht. Aber das hat seinen Preis. Denn je mehr Bereiche unseres Lebens online stattfinden, und zwar meist über ein Gerät, ein Programm oder eine Plattform von Apple, Microsoft, Google, Facebook, Amazon oder Netflix, desto grösser die Abhängigkeit von diesen Firmen aus dem Silicon Valley. Sie entscheiden, was sag- und zeigbar ist.
Das ist ein Problem für Kreative wie beispielsweise die Schweizer Filmemacherin Gabriel Baur, deren Dokumentarfilm «Venus Boyz» (2002) auf Amazon Prime als Stream zur Verfügung stand. Es ist ein Film, der von Dragkings erzählt, das sind Frauen, die als Männer auftreten; eine unaufgeregte Vorwegnahme der heute so hitzig geführten Debatte um Transgeschlechtlichkeit.
Der Film lief international im Kino und auf Festivals und war auf Amazon VOD als Stream erhältlich, bis eines Tages eine E-Mail bei Baurs amerikanischem Verleih ankam mit dem Hinweis: «Amazon VOD zeigt folgende Fehlermeldung für ‹Venus Boyz› an: ‹offensive content›.» Was anstössig sei, sagt Amazon nicht. Nur, dass der Film nicht mehr verfügbar sei, «weil er gegen unsere Inhaltsrichtlinien verstösst».
In diesen Richtlinien steht: «Um das beste Kundenerlebnis zu bieten, können wir entscheiden, deine Inhalte nicht anzubieten oder die Verfügbarkeit anderweitig einzuschränken.» Nicht erlaubt seien «Inhalte, die pornografische Darstellungen oder explizite Darstellungen sexueller Handlungen oder Nacktheit enthalten».
Baur und ihr Verleih vermuten, das Problem seien zwei, drei Szenen, in denen man für Sekunden einen Penis sieht. Einmal etwa auf den Fotografien von Del LaGrace Volcano von hybriden Geschlechterlandschaften. Ein andermal ist es ein Penis aus Kunststoff, den manche Dragkings sich für ihre Performances in die Hose stopfen. Fürs Körpergefühl.
Sie werde «Venus Boyz» bestimmt nicht neu schneiden oder angeblich Anstössiges verpixeln, nur damit Amazon den Film dann vielleicht wieder in die Videothek aufnehme, sagt Baur. Auf DVD ist er bei Amazon weiterhin erhältlich.
«Venus Boyz» lief in den USA ab 2007 auf Netflix, als einer der ersten Schweizer Filme überhaupt. Auf Apple und in seine Mediathek iTunes hingegen schaffte er es nie, weil die Richtlinien gegen Nacktheit dort schon länger viel strenger seien, sagt Baur.
Apple greift nicht nur bei Filmen ein, sondern auch live, wie Robert De Niro bei den Gotham Awards 2023 erfahren musste. Als er seine vorbereitete Dankesrede vom Teleprompter ablesen wollte, stellte er fest, dass ohne sein Wissen jene Teile daraus entfernt worden waren, die Trump kritisieren. De Niro liess sich nicht beirren und las seine Version der Rede vom Handy ab.
Es ist nicht nur die Firma Amazon, die Nacktheit mit Pornografie gleichsetzt und als «jugendgefährdende Inhalte» taxiert – während man mit Gewalt bekanntlich viel entspannter umgeht. 2019 wehrten sich Künstlerinnen gegen verschärfte Richtlinien auf Instagram, das Nacktheit ebenfalls verbietet, aber selektiv. Nur weibliche Brustwarzen sind tabu. Wer Aktfotografie oder -malerei betreibt und Instagram als Visitenkarte benutzt hatte, kann seither nur noch Bilder teilen, die dort nicht für anstössig gehalten werden.
Dass gewisse Regeln notwendig sind, hat die Plattform Twitch erfahren, die zu Amazon gehört. Nachdem sie ihre Richtlinien gelockert hatte und Zeichnungen und Skulpturen von nackten Menschen erlaubt hatte, solange die künstlerische Absicht ersichtlich war, wurde die Seite mit KI-generierten Nacktbildern geflutet. Weil diese von realen Fotografien kaum zu unterscheiden sind, wurden die Regeln wieder verschärft.
Es geht bei dieser Art von Zensur nicht einfach um Prüderie, sondern um Geld: Je weniger «jugendgefährdend» der «content», desto grösser das potenzielle Publikum.
Verlust von Werken
Ein weiterer Aspekt der Abhängigkeit von amerikanischen Tech-Firmen ist der drohende Verlust von digital erstellten Kunstwerken, sobald Konzerne Programme abschalten.
Manuel Flurin Hendry, Regisseur und Autor, experimentierte schon früh mit einem Vorläufer der KI, die heute als Chat-GPT berühmt ist. Er arbeitet mit dem Sprachprogramm, indem er es für sein «interactive theatre» mit Menschen interagieren lässt.
Für seine Installation «The Feeling Machine» lässt er Stanley, wie seine KI bei Auftritten heisst, einen Therapeuten spielen, der mit einer realen Frau interagiert, sie mit Therapieplattitüden nervt und schliesslich hintergeht und beschimpft. Plattitüden sind sein Ding. Sobald man ihn herausfordert, wird er etwas ungehalten.
Mit der aktuellen Version von Chat-GPT würde das nicht mehr klappen. Stanley wäre hochanständig und darum langweilig, weil das aktualisierte Sprachprogramm kein Wort von sich gibt, das auch nur in die Nähe von etwas Unanständigem reicht.
«Je besser die Programme werden, desto mehr Leitplanken haben sie», sagt Hendry. «Was logisch ist, weil man ja keine Sprachmodelle will, die irres Zeug halluzinieren. Sie sollen vielmehr faktisch korrekte Antworten geben.» Es komme auch darauf an, mit welchen Anbietern oder Plattformen man arbeite. Bei Microsoft sei dasselbe Sprachmodell nochmals stärker zensiert als anderswo.
Für Künstler wie ihn war aber das verrückte Halluzinieren interessant, nicht das höfliche Auskunftgeben. «Die neue Version von Chat-GPT habe ich vielleicht während dreissig Minuten ausprobiert und nachher wieder entsorgt», sagt er. Zu korrekt. Unbrauchbar für kreative Zwecke. Das Problem ist nun, dass die Firma Open AI beschlossen hat, ihre alten GPT-Versionen abzuschalten. Damit wäre Stanley tot.
Per Zufall entdeckte Hendry aber eine Hintertür: «Wenn man GPT 3.5 mit der alten Programmierschnittstelle benutzt, macht es dasselbe irre Zeug wie früher.» Dass es diese Hintertür gebe, habe er per Zufall durch Ausprobieren entdeckt. Wer mit Programmiersprachen nicht umgehen kann, wird das nicht mitbekommen und Werke verlieren.
Verlust des Filmerbes
Schliesslich bedroht unsere Abhängigkeit von Tech-Firmen auch das geistige Erbe: Das Phänomen namens «streaming anxiety» bewegt laut einem Bericht der BBC immer mehr Menschen dazu, ihre Musik und ihre Filme wieder auf physischen Trägermedien anzuschaffen und nicht einfach zu streamen. Junge Leute litten unter der Angst, dass ihr ganzes online gespeichertes Leben bei Hackerangriffen für immer verlorengehen könnte.
Was aus einer Cloud kommt, ist flüchtig. Selbst wenn man auf iTunes einen Film kauft, hat man diesen nur so lange zur Verfügung, wie Apple die Lizenzrechte besitzt. Erlöschen diese, verschwindet auch der gekaufte Film aus der persönlichen iTunes-Sammlung. Wenn Netflix sein Filmangebot zu ändern beschliesst, sind Filme und Serien einfach weg. Und was würde geschehen, wenn Netflix pleiteginge? Wären die eigens produzierten Filme und Serien für immer verloren?
Zensur ist dann gut, wenn sie das Gegenteil bewirkt: In den USA, wo Schulen und Bibliotheken nicht genehme Bücher verbannen, bilden sich jetzt «Banned Book Clubs», wo Jugendliche sich treffen, um die verbotenen Bücher zu lesen.
(Am 6.1.2024 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. Bild: )