Aus Notwehr spielt sie Männer

Ursina Lardi ist als Schauspielerin seit Jahrzehnten erfolgreich im Film wie im Theater. Wir haben sie durch Cannes begleitet, wo ihr zweiter Film mit dem Lausanner Regisseur Lionel Baier Premiere feiert.

Sie erinnere ihn an Catherine Deneuve, sagt Regisseur Lionel Baier über Ursina Lardi. Er hatte sie im Stück «Erinnerungen eines Maschinengewehrs» von Milo Rau zum ersten Mal gesehen und war beeindruckt. «Sie ist der Typ Frau, der vielleicht streng wirkt. Aber in der Realität ist sie total entspannt und unkompliziert, ein Kumpel. Man muss ihr auch kein Luxushotel buchen beim Dreh.»

In so einem Hotel, dem «Barrière», dem luxuriösesten von Cannes, sitzt Lardi jetzt – total entspannt – in der Dior-Suite vor einem Spiegel und wird geschminkt. Am Nachmittag steht die Premiere von Lionel Baiers neuem Film, «La dérive des continents (au sud)» an, der in der Sektion «Quinzaine des réalisateurs» läuft. Es ist ihre zweite Zusammenarbeit mit ihm. Das Filmteam wohnt nicht hier im Barrière, das ist die Unterkunft für die Superstars, die im Flurlabyrinth in Schwarz-Weiss von Fotos lächeln.

Lardi wurde abgeholt und hierhergebracht von einem dieser schwarzen Autos mit verdunkelten Scheiben, die wie Ameisen Tag und Nacht zwischen Hotels und rotem Teppich hin und herfahren. Um ins Haus hineinzukommen, schlängelt man sich zwischen diesen Autos, Menschen mit Kameras und normalen Hotelgästen mit dezent operierten Gesichtern hindurch.

Léa Seydoux steht am Eingang und wartet auf ihren Chauffeur. Finsterer Blick, strahlendes Make-up. Sie muss vor Ursina Lardi auf einem der Stühle in der Suite gesessen haben, wo in Spa-Atmosphäre gearbeitet wird.

Die Stylistin fragt Lardi, ob sie wasserfeste Mascara verwenden solle. «Ja, falls ich weinen muss», antwortet sie auf Französisch und lacht. Sie spricht sechs Sprachen fliessend. Ein Lippenstift plumpst in Lardis Teetasse. «Pardon!» Einen anderen bekommt sie am Schluss geschenkt. Fürs Nachbessern unterwegs.

Frauen als Täterinnen

Am Abend davor, wenige Stunden nach ihrer Ankunft in Cannes, schaute Ursina Lardi kurz auf der «Swiss Party» vorbei, die in einem der Zelte stieg, die hier in einer Reihe am Strand entlang aufgebaut sind und die von DJs schon nachmittags mit dröhnenden Bässen gefüllt werden.

Das Bild, das man sich aufgrund ihrer Rollen von Lardi macht, das einer kühlen Diva, einer schweizerischen Nicole Kidman, zerschlug sich gleich bei der Begrüssung. Sie ist fröhlich und warmherzig. Im Nu entstand eine Diskussion über ihre Rolle im letzten Stuttgarter «Tatort», der von «Basic Instinct» inspiriert war.

Sie spielte darin eine Frau, die aussagt, von ihrem Chef vergewaltigt worden zu sein. Aber die Bilder in einem heimlich aufgenommenen Video suggerieren etwas anderes. Was ist wahr? Ist sie Opfer oder Täterin oder beides? «So komplexe Rollen gab es lange Zeit selten zu spielen. Ich freue mich, dass es immer mehr werden. Da tut sich etwas», sagt Lardi. Endlich traue man sich, Frauen auch als Täterinnen wahr- und ernst zu nehmen. «Es wird sogar Frauen in Opferpositionen eine Ambivalenz zugetraut.»

Der «Tatort» von Rudi Gaul thematisiert die Macht der Bilder, die unsere Vorstellung davon prägen, wie die Wahrheit auszusehen hat – und was passiert, wenn die Realität mit diesen Bildern nicht übereinstimmt.

Davon handelt auch «La dérive des continents (au sud)» von Baier. Lardi spielt darin die deutsche Beraterin Ute, die in einem Flüchtlingslager in Sizilien zusammen mit Beamten der EU-Kommission den Besuch von Macron und Merkel vorbereitet. Es soll eine PR-Aktion für die EU werden.

Der satirische Ton im ersten Teil wandelt sich in einen dramatischen, als sich die Handlung hin zur französischen Abgesandten Nathalie (Isabelle Carré) und zu ihrem Sohn Albert verlagert. Sie treffen im Camp unverhofft aufeinander, nachdem Nathalie ihre Familie vor Jahren für eine Frau verlassen hatte. Albert hasst seine Mutter dafür. Was er nicht weiss: Sie und Ute waren ein Paar.

Neben Lionel Baier arbeitete Lardi mit Angela Schanelec, Petra Volpe, Anton Corbijn, Volker Schlöndorff oder Michael Haneke zusammen. Bei den Dreharbeiten zu dessen Drama «Das weisse Band», das 2009 in Cannes die Goldene Palme gewann, habe sie «angefangen, zu verstehen, wie Filmschauspiel funktioniert», sagt sie. «Ich war furchtbar aufgeregt, es war erst mein zweiter Film. Eine Art Feuertaufe, seither habe ich jede Angst vor dem Drehen verloren.»

Lardi dreht zwar regelmässig Filme, aber zu Hause ist sie im Theater, wo sie auch fünfzehn Jahre mehr Erfahrung hat. Wie sie als junge Frau aus Graubünden nach Berlin kam? Sie wollte einfach weg und bewarb sich an den Schulen, von denen sie wusste: Die sind gut. Sie versuchte es in Berlin und wurde angenommen. Seither lebt sie dort.
Nackter Lenin

Lardi legte es schon früh darauf an, kooperativ zu arbeiten. Mittlerweile entwickelt sie Stoffe mit Regisseuren zusammen. Bei den Arbeiten mit Milo Rau, vor allem den monologischen Abenden wie «Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs» und «Everywoman», war sie wesentlich an der Entstehung des Textes beteiligt.

In «Lenin» spielt sie den sterbenden kommunistischen Revolutionär – manchmal nackt, was ihr überhaupt nichts ausmacht. «Mein Körper ist mein Arbeitsinstrument. Wenn das Publikum sich aufregt und welche rauslaufen, ist mir das egal. Das ist eine Gesundschrumpfung: Die, die bleiben, wissen, warum sie bleiben», sagt sie.

Wenn, wie neuerdings öfter, vor Nacktheit oder Gewalt gewarnt wird, so ist ihr auch das wurscht. «Solange ich nicht in dem eingeschränkt werde, was ich spielen möchte, können sie vor mir triggerwarnen, so viel sie wollen. Wenn es aber losgeht mit ‹Das kannst du so nicht machen, das ist zu krass›, dann werden wir über das Problem neu diskutieren müssen. Bis jetzt spiele ich ungestört Männer, Tintenfische, Teenager und lesbische Frauen. Gegebenenfalls auch nackt!» Als Tintenfisch wird man sie im August an den Salzburger Festspielen im Stück «Verrückt nach Trost» von Thorsten Lensing sehen.

Als junge Frau weigerte sie sich, sexualisierte Nacktheit zu spielen, heute macht sie manchmal auch das. «Mit Mitte zwanzig ist das heikel, man wird leicht zum Objekt. Mit fünfzig hat es etwas Selbstbestimmtes», findet sie. Lardi weiss genau, was sie will. Selbst ihr Gang strahlt Entschlossenheit aus: Sie geht mit grossen Schritten.

Und selbst wenn sie die Repräsentation von Frauen beschäftigt, spart sie sich feministische Parolen. Ihr Engagement liegt in der Rollenwahl. Weil es jahrelang wenig Interessantes gab für Frauen, spielte sie «aus Notwehr» Männer: Lenin, Ödipus, Hal in «Unendlicher Spass». «Das ist eine Übergangslösung. Auf lange Sicht will ich das in Frauenfiguren sehen und spielen, was bis jetzt ganz selbstverständlich in Männerfiguren gesehen und gespielt wird», sagt sie.

Wie sie ihre Haare frisiert haben wolle, fragt der Stylist in der Dior-Suite. «Einfach, aber schön», antwortet Lardi und lacht. Durch die riesigen Fenster schimmert Meerlicht in den Raum, Jachten schaukeln, schon wieder kommt ein Kreuzfahrtschiff an. Ein Helikopter landet draussen am Steg, wo eines dieser schwarzen Autos bereitsteht. Ein unauffälliges kleines Boot holt jemanden von einer Jacht ab. Valeria Bruni-Tedeschi? David Cronenberg? Ruben Östlund?

An diesem Wochenende drängen sich die Stars auf dem Teppich für die «Montée des marches», wie der Gang über die Treppe hinein ins Palais des Festivals heisst.

Sie will Überraschungen

Baiers Film wird nicht dort, sondern im kleineren Kino der «Quinzaine des réalisateurs» gezeigt. Premiere um 15 Uhr. Noch eine halbe Stunde. Cast und Crew treffen sich zum Fototermin in diesem Zelt am Strand. Anspannung macht sich bemerkbar. Lardi bleibt ruhig.

Filmpremieren machen sie nicht nervös. «Es gibt keinen Grund. Wenn der Film fertig ist, kannst du nichts mehr machen. Du gibst ihn schon nach dem Dreh aus der Hand und wendest dich Neuem zu.» Das ist ein Satz, den man von vielen Filmschaffenden hört. Während Publikum und Presse in Aufregung sind, haben die Künstler den Kopf längst woanders.

Eine Theaterpremiere hingegen ist etwas anderes. Das sei nicht das Ende der Arbeit, wie beim Film, sondern «der Anfang der Zeit mit dem Publikum», sagt sie. «Der Film ist ein fertiges Produkt, der Theaterabend ein lebendiger, störanfälliger Organismus. Ein gutes Stück wird nach der Premiere immer besser, ein schlechtes nur noch schlechter.»

Wenn Lardi für die Fotos posiert, fällt etwas auf: In Sekundenbruchteilen verändert sich ihr Blick, und die Körperspannung nimmt zu. Als ob sie intuitiv ihr Künstlerinnen-Ich vor ihr privates schieben würde. Dann ist es wieder da, dieses Distanzierte, das man aus ihren Rollen kennt. Es stört sie, dass die Öffentlichkeit so hartnäckig glaubt, sie sei privat gleich wie die Figuren, die sie spielt. Dabei hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.

«Es fällt mir nicht schwer, mich in eine Situation zu versetzen», sagt sie. Egal, wie drastisch es ist, was eine ihrer Figuren erlebt, es geht ihr nicht nach. «Wenn ich spiele, gehe ich voll rein mit allem, was ich habe, und danach wieder raus. Licht aus, vorbei. Das ist der Spass daran.» Method-Acting? Nichts für Lardi. Sie verliert sich nicht in ihren Figuren, sondern spielt sie. «Den Satz ‹Das würde meine Figur nie machen› wird man von mir nicht hören. Plausibilität interessiert mich nicht besonders, Überraschung hingegen sehr.»

Sie will auch selbst überrascht werden. Sie liebt Tonwechsel und Komplexität in der Erzählweise. «Gute Produktionen verwandeln einen», sagt sie. «Es gibt welche, bei denen man eine neue Seite von sich entdeckt, die prägend wird für später. Ein solcher Moment war, als ich merkte: Oh, ich bin ja lustig!» Im Januar 2023 werden wir Lardis komödiantische Seite im Spielfilm «Die Nachbarn von oben» von Sabine Boss sehen.

Jetzt, nach der Premiere von «La dérive des continents (au sud)» und minutenlangem Applaus, geht es zurück ins Hotel. Umziehen. Der Teppich wartet. Raus aus «diesem Schlüttli», wie Lardi ihren schicken schwarzen Jumpsuit nennt. Hinein in die Robe von Martin Niklas Wieser, dem jungen Designer aus Wien, der das Kleid eigentlich für Lardis nächste Rolle geschneidert hatte, aber sie durfte es mitnehmen nach Cannes. Ein Glück. Wer besitzt schon solche Roben, die an diesem Festival einfach dazugehören.

Vieles hier ist schöner Schein. Ein Spiel, das man mitspielt. Dazu zählt auch der Gang über die Treppe, selbst wenn der Film nicht im grossen Théâtre Lumière läuft, sondern bereits in einem anderen Kino vorgeführt wurde. Die Crew geht dann also die Treppe hoch, lässt sich fotografieren und von Fans beklatschen, verschwindet im Palais, verlässt dieses aber gleich wieder durch einen Hinterausgang. Vielleicht um zum Dinner mit Cast und Crew zu gehen oder an eine der exklusiven Partys, von denen hier so viele gefeiert werden.

«Es ist Zeit», unterbricht eine Assistentin unser Gespräch am Strand. Ursina Lardi muss zum Flughafen. Sie schüttelt den Sand aus ihren Turnschuhen und verabschiedet sich. Fürs Filmeschauen fehlt die Zeit. Sie muss Filme drehen.

 

 

(Zuerst erschienen am 28. Mai 2022 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Caterina Suzzi)