Betroffen von der Betroffenheit
Darf man dieses Bild zeigen? – Ja.
Es ist immer dasselbe: Zeitungen verbreiten ein Bild, das etwas Schreckliches zeigt. Bild und Artikel werden via Soziale Netzwerke millionenfach geteilt. Dann, einen, zwei Tage später, stellen nicht selten dieselben Zeitungen in Frage, ob man das denn dürfe, so ein schreckliches Bild zeigen. Jetzt ist es das des syrischen Jungen, der auf der Flucht vor dem Krieg ertrunken ist. Die NZZ schreibt, die Massenmedien würden «ihren Voyeurismus mit einem Betroffenheitskult kaschieren».
Aber das ist kein Voyeurismus. Voyeurismus ist, wenn man Bilder von sterbenden Unfallopfern oder Portraits von Passagieren eines abgestürzten Flugzeugs veröffentlicht, weil solche Bilder eine Katastrophe zeigen, die uns nichts angeht. Zumindest diejenigen, die das Glück hatten, niemanden dabei verloren zu haben.
Das Bild des ertrunkenen Jungen zu zeigen ist schrecklich, aber nicht voyeuristisch. Denn es steht pars pro toto für eine Katastrophe, die uns etwas angeht. Angehen muss. Nur vergisst man das allzu leicht, weil man es sich inzwischen angewöhnt hat, möglichst vieles von dem möglichst schnell wieder auszublenden, mit dem die Massenmedien Tag und Nacht um unsere Aufmerksamkeit buhlen.
«Wer nur einigermassen am Zeitgeschehen interessiert ist und über ein Minimum an Empathie verfügt, muss schon lange wissen, was für tragische Szenen sich vor den neu errichteten Zäunen und den Küsten des Abendlands abspielen», schreibt die NZZ. Ja, wir wissen es. Aber wir haben trotzdem nichts begriffen. Darum ist es nicht voyeuristisch, diesen Jungen zu zeigen, sondern notwendig.