Black Stars

Zurzeit laufen so viele Filme mit Afroamerikanern an wie seit dreissig Jahren nicht mehr. Die Renaissance des schwarzen Films ist Resultat eines jahrzehntelangen Kampfs gegen Rassismus.

Chiron ist schwarz, schwul und arm. Er hat eine Crack-süchtige Mutter. Der Regisseur Barry Jenkins erzählt in seinem herausragenden Drama «Moonlight» vom Aufwachsen dieses Mannes am Rande der Gesellschaft in Miami. Im Januar gewann er damit einen Golden Globe als bestes Drama. «La La Land» von Damien Chazelle, das Flickwerk aus Versatzstücken von legendären Hollywood-Musicals, gewann sieben von den goldenen Kugeln. Das ist ein Rekord.
 
Jetzt ist Chazelles Film für vierzehn Oscars nominiert, «Moonlight» für acht. Es müsste umgekehrt sein. Denn der Film von Jenkins sorgt inhaltlich, stilistisch und emotional für eine Kinoerfahrung, wie man sie nur selten macht. Er saugt einen hinein in eine Welt, die einem, besonders als weisse Europäerin, fremder nicht sein könnte; man kommt anders aus dem Kino heraus, als man hineingegangen ist. Es ist symptomatisch, dass «La La Land», der Film eines weissen Mannes über ein weisses heterosexuelles Paar, das in einem sauberen, sicheren Los Angeles in einer Traumwelt lebt und liebt, der Oscar-Favorit ist: Hollywood feiert sich damit selbst. Sich und den Kanon, den weisse Männer über Jahrzehnte geschaffen und damit festgelegt haben, was gutes Kino sei.
 
Die Reihe von sogenannten «schwarzen Filmen», die seit einigen Monaten in die Kinos kommen, deutet auf die Renaissance des Black Cinema hin; auf das Ende der Gültigkeit dieses Kanons und allen damit verknüpften Vorurteilen. Da sind «A United Kingdom» von Amma Asante, «Hidden Figures» von Theodore Melfi, «Loving» von Jeff Nichols, «Fences» von Denzel Washington, «I Am Not Your Negro» von Raoul Peck, um nur einige wenige zu nennen. Die vier letztgenannten haben Oscar-Nominationen erhalten; so auch sechs schwarze Darsteller und Darstellerinnen. Das gab es noch nie. Es könnte mehr sein als nur eine Reaktion auf die Diskussionen um die #OscarsSoWhite, nachdem 2015 und 2016 in den Hauptkategorien ausschliesslich Weisse nominiert worden waren.
 
1914 prägte D. W. Griffith in «Birth of a Nation» das Bild des Afroamerikaners im Film, das sich über Jahrzehnte hielt. Das Kriegsdrama erzählt aus der Sicht der Südstaatler, den Befürwortern der Sklaverei, vom amerikanischen Bürgerkrieg. Es zeigt die Afroamerikaner entweder als Idioten oder als Kriminelle: als Tiere, die weisse Frauen vergewaltigen. Dieser Typus des bösen schwarzen Mannes sickerte ein in die Realität. Der Ku-Klux-Klan erhielt neuen Auftrieb, Lynchmorde nahmen zu. Das Resultat, scheinbar zum Schutz der Schwarzen, war die Rassentrennung. Das erfährt man in «13th», dem erschütternden und dieses Jahr ebenfalls Oscar-nominierten Dokumentarfilm von Ava DuVernay, der Regisseurin von «Selma», dem Biografiefilm über Martin Luther King. In «13th» erklärt sie, wie der 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung das Verbot der Sklaverei festlegte, aber auf perfide Weise zugleich zur Kriminalisierung von Schwarzen beitrug. Das Resultat sind über zwei Millionen Inhaftierte, 40 Prozent davon schwarze Männer. Die überfüllten Gefängnisse sind Symbole für den Rassismus, der die amerikanische Kultur bis heute prägt.
 
Das Drohbild, das «Birth of a Nation» entworfen hatte, prägte das Kino bis in die 1980er Jahre. Schwarze spielten höchstens Nebenrollen, und zwar als Sklaven, Mägde, Butler, Dealer, Mörder. Hattie McDaniel gewann 1940 als erste schwarze Frau einen Oscar als beste Nebendarstellerin, sie war das Dienstmädchen in «Gone With the Wind». Ein Film über ein schwarzes Liebespaar? Undenkbar. David Oyelowo, der in «A United Kingdom» den Ehemann einer Weissen spielt, sagte einmal: «Ich bin mit Milliarden von Bildern aufgewachsen, auf denen jemand, der so aussieht wie ich, gar nicht oder nur am Rand vorkommen.» Lupita Nyong’o, die 2013 in «Twelve Years A Slave» von Steve McQueen eine Sklavin spielte, meinte, sie warte auf den Tag, an dem Filme mit Afroamerikanern in der Hauptrolle keine Anomalie mehr seien.
In den 1980er und 90er Jahren war das möglich: Schwarze Regisseure fingen an, mit kleinen Budgets Filme über ihr Leben in Amerika zu drehen. Die bekanntesten sind «She’s Gotta Have It», «Do the Right Thing», «Malcolm X» von Spike Lee. Das Drama «Boyz n the Hood» von John Singleton brachte ihm als erstem Afroamerikaner eine Oscar-Nomination für die beste Regie ein. Gewonnen hat Jonathan Demme mit dem Thriller «Silence of the Lambs».
 
Dann entdeckte Hollywood das Potenzial dieses Black Cinema, das ihnen ein neues Marktsegment erschloss: das schwarze Publikum. Die «New York Times» schrieb 1991: «Die Rechte an einem schwarzen Film zu besitzen, ist für die 90er, was das Autotelefon für die 80er war: Jeder Studioboss will das haben.» Auch im Fernsehen lernte man das Leben der black communities kennen, erzählt aus ihrer eigenen Perspektive. Wie heute «Moonlight», so brachten einem diese Filme eine Lebenswelt näher, die man vor allem als Klischee kannte. Dennoch: Wenn Spike Lee, Barry Jenkins oder, selten genug, eine ihrer Kolleginnen einen Film machen, warum ist es dann automatischBlack Cinemaund nicht einfach Cinema? Diese Kategorisierung befeuert letztlich, was diese Filme abzubauen vermöchten: Rassismus. Barry Jenkins sagte dazu im Interview: «Vielleicht können wir irgendwann, so in tausend Jahren, einfach von Kino sprechen. Aber vorläufig ist es Black Cinema. Nicht weil ich beim Drehen denke, ich mache einen schwarzen Film, sondern weil Weltgeschichte so verlaufen ist, weil man meine Rasse so behandelt hat.»
 
Seit den 1990er Jahren spielten immer mehr schwarze Darsteller im Kino auch andere Rollen als die Sklavin oder den Kriminellen: Auf die Handvoll Stars von früher wie Harry Belafonte, Sidney Poitier und Pam Grier («Foxy Brown»), folgten nun Angela Bassett, Will Smith, Whoopi Goldberg, Wesley Snipes, Eddie Murphy oder Halle Berry. Sie gewann für ihre Leistung im Drama «Monster’s Ball» 2002 als erste schwarze Frau den Oscar für die beste Hauptdarstellerin. Aber weil der Aufstieg des Black Cinema mit der Übernahme des Independent-Kinos durch die grossen Studios zusammenfiel und kaum noch Gelder flossen, spielten diese schwarzen Stars immer seltener in schwarzen Filmen mit, stattdessen in Werken von Regisseuren wie Steven Spielberg.
 
Whoopi Goldberg, die 1985 in seinem Historiendrama «The Color Purple» die Hauptrolle spielte, nannte dieses eine «weissgewaschene Version von Alice Walkers Roman». Spike Lee meinte, Spielberg habe keine Ahnung vom Leben der Schwarzen. Um die Jahrtausendwende ging das Interesse am Film über das gegenwärtige Leben von Afroamerikanern in den USA verloren. Stattdessen erfuhr man davon in den Nachrichten: von weissen Polizisten, die Schwarze erschiessen. 2013 reagierte Ryan Coogler in seinem Drama «Fruitvale Station» auf den Tod von Oscar Grant, der grundlos von der Polizei getötet wurde.
 
Man würde sich wünschen, dass die Angst der Schwarzen vor Diskriminierung jetzt ins Bewusstsein der Zuschauer sickert, so wie damals die Angst vor dem bösen schwarzen Mann ihren Weg so einfach von der Leinwand herunter in den Zuschauerraum fand. Dass die Filme, ob man sie nun Black Cinemanennt oder nicht, ihre aufklärende Kraft entfalten. Indem sie uns wahre Geschichten erzählen wie das Drama «Loving», das vom Kampf eines weissen Mannes und einer schwarzen Frau handelt, für ihre Liebe nicht mehr mit Gefängnis bestraft zu werden. Oder indem sie wie «Hidden Figures» nachholen, was die Lehrer im Geschichtsunterricht verpasst haben und uns die genialen schwarzen Mathematikerinnen und Ingenieurinnen bei der Nasa vorstellen, ohne die es die USA niemals bis zum Mond geschafft hätten.
 
Barry Jenkins sagt, er erzähle zwar von einem Afroamerikaner, «aber ich zeige ihn als Menschen. Als Mann mit einem komplexen Charakter. Es gibt nichts an ihm, wovor man sich fürchten müsste.» Filme wie «Moonlight» bauen die Angst vor dem scheinbar Fremden ab. Und je weniger Angst, desto weniger Rassismus.
 
Erschienen am 5. Februar in der «NZZ am Sonntag».
(Bild: DCM)

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