Blutsauger des Boulevards

Der britische Interviewer lebt in seiner Sendung bei Youtube vom Leid seiner Gäste. Wenn, wie neulich, Kevin Spacey weint, dann nützt das vor allem einem: Piers Morgan.

Er brachte Kevin Spacey zum Weinen. Und sogar dazu, ein paar Fehler zuzugeben. Ja, er habe Menschen möglicherweise auf eine Art angefasst, die diese als übergriffig empfunden hätten, gestand der Schauspieler in der Talkshow «Piers Morgan Uncensored» ein. Immer wieder stiegen dem Star, der seit 2017 von mehreren Männern der sexuellen Übergriffe beschuldigt wurde, Tränen in die Augen. Ein Volltreffer für Piers Morgan. Das gibt Klicks, das gibt Aufmerksamkeit. Vampire leben von Blut, dieser Interviewer vom Leid und von der Schwäche seiner Gäste.

Dass Spacey zum Geächteten wurde, obwohl er in mehreren Verfahren freigesprochen wurde, machte ihn zum idealen Gast für Morgan, der in seine Talkshows am liebsten Berühmte einlädt, die am Rand des gesellschaftlichen Abgrunds balancieren, die bereits abgestürzt sind oder sich missverstanden oder gecancelt fühlen.

An den Super-Egos, wie etwa Andrew Tate, dem misogynen Influencer, schärft Morgan sein Image des toughen Interviewers. Den Schwachen wie Spacey wiederum gibt er die Gelegenheit, «ihre Wahrheit» zu sagen. Er gibt sich kumpelhaft und schmeichelt («Sie als zweifacher Oscar-Gewinner . . .», «Ist das nicht unfair»?), er lockt sein Opfer in die Sentimentalitätsfalle («Wie fühlt sich das an für Sie?»). Und Spacey, pleite und willig, sich öffentlich als reumütigen Mann zu präsentieren, fällt entweder darauf herein oder spielt mit.

Piers Morgan ist ein Meister des Boulevards. Der Sohn eines Paars der Arbeiterklasse, 1965 in Surrey geboren, ist ein Zögling von Rupert Murdoch. Als Journalist war er bei Blättern wie «The Sun» oder «News of the World», wo er 1994 als 29-Jähriger zum Chefredaktor wurde; ein Jahr später übernahm er die Leitung des «Daily Mirror», der 2011 im Zusammenhang mit gehackten Telefonen von Prominenten dann selbst in die Schlagzeilen geriet. Morgan bestritt, etwas damit zu tun zu haben, die Beweislage sprach gegen ihn, er wurde gefeuert.

Schon während er sich für Boulevardblätter an Berühmtheiten abarbeitete, trat er neben solchen auch im Fernsehen auf, in «The Importance of Being Famous» etwa oder in «You Can’t Fire Me, I’m Famous». Er sass in Jurys von Talentshows und wurde 2008 von Donald Trump in dessen Reality-TV-Show «The Apprentice» selbst als Talent ausgezeichnet. Seither sind sie Freunde. Als Trump jüngst wegen Verschleierung von Schweigegeldzahlungen an eine Pornodarstellerin schuldig gesprochen wurde, wiederholte Morgan in seiner Show dessen Behauptung, das US-Rechtssystem sei korrupt.

Wie sein Freund Donald liebt auch Morgan Celebritys und nutzt sie, um selbst prominent zu werden. Mit Talkshows, die seinen Namen im Titel tragen, baute er sich zur Marke auf: «Piers Morgan’s Life Stories», «Piers Morgan Live». Am True-Crime-Boom bediente er sich mit den Formaten «Killer Women with Piers Morgan» und «Serial Killer with Piers Morgan».

«Das wird man ja wohl noch sagen dürfen», das ist kein Satz, der Morgan je über die Lippen käme. Er sagt einfach , was er denkt. Das führte zum Bruch mit «Good Morning Britain», einer Talkshow beim Sender ITV. Als er Oprah Winfreys Sendung mit Meghan Markle und Prinz Harry zerriss, gab es so viel Kritik aus dem Publikum, dass Morgan zu Murdoch zurückkehrte. Bei Talk TV lancierte er «Piers Morgan Uncensored». Ein Statement gegen die sogenannte Cancel-Culture, die Morgan so verhasst ist wie #MeToo, Meghan Markle und Linke.

Aber die Vorgaben und die zu tiefe Reichweite des linearen Fernsehens gefielen Morgan nicht, und er zog mit seiner Sendung um zu Youtube. Hier hat er statt ein paar zehntausend inzwischen 2,4 Millionen Abonnenten. Sein Interview mit der mutmasslich realen Stalkerin und psychisch kranken Frau, auf deren Tun die Serie «Baby Reindeer» beruht, wurde 14 Millionen Mal angeklickt. Ein Triumph für Morgan und ein Tiefpunkt des Boulevards. Solche Personen gehören vor sich selbst geschützt.

Wie viele seiner Talks werden wohl ganz geschaut? Seine Taktik ist so durchsichtig, sein Zielen auf Emotionen so banal, dass man sich schnell langweilt. Sein Gespräch mit Olena Selenska («Wie fühlt sich das an für Sie als Mutter?») kommentierte jemand so: «Piers Morgan, mit deinem Grad an Ausbildung und Allgemeinwissen kannst du vielleicht über Meghan Markles Unterhose diskutieren, aber nicht über geopolitische Themen.»

Das wird Morgan nicht kümmern, sondern ihn nur ruchloser werden lassen. Denn Boulevard verliert an Bedeutung. Klatsch und Shitstorms finden heute auf Social Media statt.

 

(Am 15.6.2024 der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Illustration: Bianca Litscher/NZZ)

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