Dann sinkt der verwundete Held langsam in die Knie...
Leichen pflastern die Geschichte des Films. Trotzdem tut sich das Kino schwer mit dem Sterben. Pedro Almodóvar versucht es in «The Room Next Door», seinem ersten englischsprachigen Film, mit farbigen Pullovern.
Das Kino lebt vom Tod, denn er treibt die Handlung voran. Aber Film und Tod sind ein schwieriges Paar, weil das Kino das Lebensende zwar liebt, oft aber ungelenk damit umgeht. Erst recht mit den Momenten davor, dem Sterben. Es lauern Klischees und Trivialisierung, weil es bei aller Tragik nun mal um Unterhaltung geht.
«Das Letzte, was wir in so einem Moment wollen, ist Theatralik», sagte Tilda Swinton im Roundtable-Interview zu «The Room Next Door» von Pedro Almodóvar, worin sie die todkranke Kriegsreporterin Martha spielt. Doch der Film ist genau das: Theater. Und darum ein Beispiel für die Überforderung des Kinos mit seinem Lieblingsthema – neben den anderen Lieblingsthemen, Erotik und Sex, die ähnlich mit einem Tabu behaftet und ähnlich schwierig darzustellen sind. Interessanterweise gibt sich das Publikum gerne der Illusion hin, Sex im Film sei echt. Aber niemand fragt nach den Leichen aus «Squid Game» oder «John Wick».
Besonders theatralisch sind die Dialoge am Anfang von «The Room Next Door», in denen die Figuren ausführlich erklären, was in ihnen vorgeht, wer sie heute sind und wer sie früher waren. Wenn Martha im Spitalbett liegend schliesslich «The Dead» von James Joyce rezitiert, mag das in der Romanvorlage bewegend sein, aber im Film ist das so pathetisch, dass selbst die aussergewöhnliche Tilda Swinton gekünstelt wirkt.
Neben Martha steht hilflos ihre einstige beste Freundin, Ingrid (Julianne Moore), die noch nicht lange weiss, wie es um Martha steht. Dass es keine Aussicht auf Rettung gibt und die Kranke darum selbst entscheiden wird, wann sie aus dem Leben scheidet. «Ich verdiene einen guten Tod», sagt sie, die sich wünscht, dass Ingrid bei ihr sei in ihren letzten Wochen. Und dann im Zimmer nebenan, wenn sie ihr Leiden mit der Euthanasiepille beenden wird, die sie im Darknet gekauft hat, weil das Gesetz ihr einen «guten Tod» nicht erlaubt. Ingrid willigt ein.
Seine Filme sind Märchen
Das Sterben selbst zeigt Almodóvar nicht. Ist das nun feige in einem Film, der ein Plädoyer für Sterbehilfe ist? Nein. Für ein Werk von Almodóvar ist es nur konsequent. Der Todeskampf der bis zuletzt eleganten Martha würde nicht in seine arrangierte Welt der leuchtenden Primärfarben passen. Tilda Swinton sagt es so: «Pedro schreibt in High Heels. Seine Filme sind Märchen. Sie spielen alle in Almodovaria, wo Frauen diese farbigen Pullover und Lippenstift tragen und scheinbar immer Geld haben. Und selbst wenn Martha arm wäre, würde sie in Almodovaria toll aussehen und nicht auf roten Lippenstift verzichten.»
Indem Almodóvar die Tür vor Marthas Sterben verschliesst, erspart er dem Publikum den Voyeurismus und Swinton die Aufgabe, Unmögliches spielen zu müssen. Denn anders als fast alles andere lässt sich das Sterben nicht imitieren. Niemand weiss, wie es sich anfühlt, wenn die Sinne langsam verlöschen.
Weil der Tod die Kunst aber von jeher beschäftigt, so hat auch das Kino seine eigenen stereotypen Bilder vom Lebensende erschaffen, und zwar seit der ersten bekannten Sterbeszene 1895 in «Trilby» nach dem Roman von George du Maurier. Im Katalog der Produktionsfirma, die Thomas Edison gehörte, ist die Szene als «sehr lustig» beschrieben. Die Theatralik, übernommen vom Bühnenschauspiel, ist bis heute erhalten geblieben. Milder zwar, aber es muss immer noch effektvoll gestorben werden. Zusammenschnitte von Sterbeszenen auf Youtube zeigen, wie das geht: Tödlich getroffene Helden werfen die Hände in die Luft, bevor sie umkippen. Sie greifen sich an die Rippen, wo das Blut aus der Wunde quillt, und sinken langsam in die Knie. Kranke hauchen (bedeutsame!) letzte Worte, bevor der Blick erstarrt oder sie die Augen schliessen. Und wenn der Kopf zur Seite kippt, dann wissen wir: Der Film-Exitus ist eingetreten.
Das Kino hat ein Problem mit dem Tod, aber keines mit dem Töten. In Action-, Fantasy-, Kriegsfilmen oder Western geschieht das Morden wie nebenbei, es gehört zur Kulisse. Wie man sich in der Antike mit tödlichen Gladiatorenkämpfen amüsierte, so besteht der Mensch von heute Mutproben in Slasher-Filmen wie «Terrifier 3». Der macht zurzeit Schlagzeilen, weil die Leute im Kino in Ohnmacht fallen oder sich übergeben ob der Brutalität dieses sadistischen Mörderclowns. Der meuchelt mit Axt und Kettensäge, sprengt als Samichlaus verkleidet Kinder in die Luft und hängt Gedärme wie Lametta an einen Christbaum. Wäre er ein Killer aus einer Krimiserie, dann wäre das Resultat seines Tuns der Anfangspunkt von Ermittlungen. Im Film wird gestorben, damit die Lebenden sich bewähren können. Als Detektivinnen, als Helden, heldenhafte Witwer, als Rächerinnen oder als Hinterbliebene, mit denen das Publikum mitweint.
Fieberhafte Ablenkung
Der Film lebt vom Sterben, aber in seiner Überforderung damit weicht er aus auf Mittel der Distanzierung. Mal ist es extreme Ästhetisierung wie bei Almodóvar, mal Komik, oft Pathos und Melodrama oder dann Ironie, wie Coralie Fargeat dies jüngst in «The Substance» tat. Wenn es also ums Sterben geht, dann gleicht das Kino dem echten Leben, aus dem der Tod bestmöglich verdrängt wird. «Dass die Gesellschaft uns fieberhaft von unserer Sterblichkeit ablenken will, ist so eine Verschwendung», meint Swinton dazu. «Etwas vom Schönsten am Leben ist das Wissen darum, dass wir altern und sterblich sind. Es bekümmert mich, dass man uns solche Angst vor dem Tod einzujagen versucht.»
Eine Annäherung an das schwere Thema fällt leichter, wenn Filme statt aufs Ausweichen auf tatsächliche Verfremdung setzen. Wenn das Nichtspielbare, das Nichtzeigbare der Vorstellungskraft der Zuschauer überlassen wird. Wie im Drama «Vortex» von Gaspar Noé, in dem ein altes Ehepaar an Alzheimer stirbt. Statt dass sie ihr Leben aushauchen würden, löst Noé das Bild ihrer schlafenden Gesichter in einer Überblendung einfach auf. Und am Ende räumt die Crew das Filmset ab, verpackt Möbel, Bücher, Fotos in Kisten. Mit den Objekten verschwinden die Erinnerungen und mit diesen auch diese beiden Leben aus der Welt. Das ist nicht zu erfassen in einem Youtube-Clip über Sterbeszenen.
Erschienen am 7.12.2024 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Iglesias Mas