Das darfst du nicht spielen! Wie eine überhitzte Identitätspolitik dem Film schadet
Männer dürfen nur Filme über Männer drehen, Lesben nur Lesben spielen? Solche Forderungen machen Filme belanglos und haben negative Auswirkungen auf die Diversität.
Als «Brokeback Mountain» 2005 in die Kinos kam, herrschte Begeisterung. Endlich ein Mainstreamfilm, der von einer homosexuellen Liebe erzählte. Heute würde der Regisseur Ang Lee dafür kritisiert, die Rollen der beiden Cowboys mit heterosexuellen Schauspielern besetzt zu haben. So erging es 2019 auch Francis Lee, Regisseur des Dramas «Ammonite», das im Frühling ins Kino kam.
Schon vor Drehbeginn musste er sich gegen Vorwürfe verteidigen, er habe der historischen Figur Mary Anning (Kate Winslet) eine Romanze mit Charlotte Murchison (Saoirse Ronan) angedichtet, was so nicht überliefert sei. Ausserdem seien Winslet und Ronan heterosexuell, also nicht geeignet für die Rollen.
Der Regisseur Barry Jenkins wiederum, gefeiert für «Moonlight», muss sich jetzt die absurde Frage gefallen lassen, warum er als heterosexueller Afroamerikaner einen Film über homosexuelle Afroamerikaner drehen durfte. Solche Fälle häufen sich.
Den Auswirkungen der Identitätspolitik, die in der Filmwelt zunehmend groteske Züge annimmt, kann man sich auch als Filmkritikerin nicht entziehen. Plötzlich fragt man sich: Darf man als weisse Heterosexuelle über einen Film wie «Moonlight» schreiben? Interpretiert man die Erfahrungen der Protagonisten richtig?
Jenkins tat solche Bedenken, damals im Interview darauf angesprochen, als unnötig ab. Alle sollen sich mit seinem Film identifizieren können, egal, welcher Herkunft. Liebe, Angst, Unterdrückung, Güte sind universelle Themen, die kann man nicht missverstehen, nur die Deutung ist individuell.
Sich in Welten und emotionale Zustände hineinzuversetzen, die mit der eigenen Realität nichts zu tun haben, ist der Sinn des Geschichtenerzählens. Filme wie «Moonlight» können Fremdes effektiv näherbringen, Vertrauen schaffen, Ängste abbauen. Sie erweitern den Horizont und schaffen Empathie.
Aber diese kommt uns in der Realität mehr und mehr abhanden. Befeuert durch Forderungen einer überhitzten Identitätspolitik in der Filmwelt, die am liebsten verlangen würden, dass Regisseure nur von sich erzählen und Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Leinwand nur das verkörpern dürfen, was sie in der Realität sind. Aber die Leinwand ist nicht Instagram.
Niemand will der Böse sein
Die Regisseurin Julie Delpy sagte in einem Interview, dass Männer sich zunehmend schwer täten damit, Figuren zu spielen, die anderen psychische Gewalt antun, aus Angst, das falle auf sie als Privatperson zurück. Der deutsche Filmemacher RP Kahl sagte in einem Podcast-Gespräch, er beobachte, dass Schauspieler ihre Rollen entsprechend ihres Images auszuwählen begännen. Früher nannte man das Type-Casting, das es zu vermeiden galt.
In der Konsequenz würde das heissen: Die einzige erlaubte Rolle ist, sich selbst zu spielen in einem Film, der von einem selbst handelt, das Drehbuch von der Hauptdarstellerin selbst geschrieben. Der Film müsste besprochen werden von einer Kritikerin, die aus demselben soziokulturellen Milieu stammt wie die Autorin/Hauptdarstellerin/ Regisseurin. Nur: Wenn die Fiktion deckungsgleich sein muss mit der Realität, schafft sie sich selber ab.
In der Identitätspolitik widerspiegeln sich eigentlich die Wünsche und Forderungen von Gruppen von Ausgegrenzten nach einer längst überfälligen Chancengleichheit und Gleichberechtigung. In ihr manifestiert sich der Widerstand gegen eine Norm – weiss, heterosexuell, männlich –, deren Macht man sich nicht mehr länger unterordnen will.
Spätestens seit MeToo und den wiederkehrenden Protesten gegen Filmpreise, die vorwiegend an Weisse gingen, befindet sich die Filmwelt im Umbruch und endlich auf dem Weg zu mehr Diversität. Aber jetzt droht diese zum Selbstzweck zu verkommen und sich selbst zu unterlaufen.
Das kann man auch ablesen am Angebot von Netflix. Der Streaminganbieter ist ein Abbild der kulturpolitischen Debatten. Bis vor wenigen Jahren war die Plattform der Ort für «diversity». Aber jetzt wird diese zum Geschäftsmodell: Neue Produktionen biedern sich damit beim Zielpublikum an, statt gute Geschichten zu erzählen.
Netflix weiss dank seinen gigantischen Datenmengen sehr genau, was seine Zielgruppen wollen und bedient diese entsprechend. So wird Diversität reduziert auf ein Mittel zum Zweck der guten Unterhaltung. Und diese muss gewährleistet sein, sonst riskiert Netflix, dass wir weniger Zeit auf der Plattform verbringen. Das Resultat sind Produktionen, die so konstruiert wirken, als hätte sie ein Algorithmus entworfen.
Eine regelrechte Farce ist «Moxie» von Amy Poehler, ein Drama über ein Mädchen, das an einer Highschool eine feministische Revolution lostritt. Dieses didaktische Machwerk hakt brav jedes Thema auf der Liste ab: toxische Männlichkeit, Victim Blaming, Rassismus, Sexismus, aber nichts wird vertieft.
Weil der Film nur Stereotype bedient, statt die Schmerzhaftigkeit von Diskriminierung zu zeigen, wird die Diversität auf hohle und trotzdem dogmatische Phrasen reduziert und zum billigen Ersatz für eine ernsthafte und notwendige Auseinandersetzung mit dem Thema.
Dogmen statt Streit
Ja, es gehört zur Identitätsbildung, dass man sich durch Abgrenzung seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe versichert. Wenn die Abgrenzung aber kategorisch wird, verschreibt man sich – ausgerechnet als Angehörige einer Gruppe, die für Inklusion kämpft – der Exklusion.
Damit nähert man sich denjenigen an, die die Forderungen von Diskriminierten nach mehr Gerechtigkeit als Political Correctness abtun. Sie entziehen sich dadurch einer Auseinandersetzung, um den Status quo zu erhalten und sich ihrer Dominanz zu versichern.
Die entgleisende Identitätspolitik in der Filmwelt und die daraus resultierende Diskussionsverweigerung tun dasselbe. Aber eine Neuaushandlung der Machtverhältnisse ist nicht möglich durch den Rückzug auf Dogmen, sondern nur durch Auseinandersetzung. Das Medium Film ist besonders geeignet, dazu beizutragen: als Labor, um neue Realitäten zu entwerfen.
Zuerst erschienen am 20.3.2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: AP)