Das Rote Kreuz verblasst

Von der Schweiz bis Griechenland leisten Tausende Freiwillige, was das Rote Kreuz nur verspricht: Sie verhindern eine humanitäre Katastrophe mitten in Europa.

«Es ist die Hölle.» Das sagt, wer in diesen Tagen in Idomeni ist, um den Flüchtlingen zu helfen, die dort festsitzen, seit die EU ihre Grenzen geschlossen hat. 15 000 Menschen harren in dem Lager aus, das für 2000 eingerichtet ist, mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen und Kinder. Die hygienische Situation ist katastrophal, es gibt zu wenige Toiletten, zu wenige Waschgelegenheiten, aber auch zu wenig Essen. Es regnet ununterbrochen, alles versinkt im Schlamm, Wasser rinnt in die Zelte. Aber längst nicht alle haben eins, Kleinkinder müssen auf dem Boden unter dem freien Winterhimmel schlafen. Kinder leiden an Atemwegserkrankungen und Brechdurchfall, ein erster Fall von Hepatitis A wurde diagnostiziert, übertragen durch verschmutztes Wasser. Idomeni wird zum Symbol des Versagens – von EU-Politikern, aber auch von Hilfswerken, allen voran der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), der grössten humanitären Organisation der Welt.

Markus Mader, der Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK), nennt die Zahl seiner Helfer, die in die Tausende, und der Decken und Essenspakete, die in die Millionen gehen. Aber selbst er räumt ein: «Es trifft sicher zu, dass nicht überall alle Menschen auf der Flucht erreicht werden konnten.»

Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, 1919 auf Initiative des Amerikanischen Roten Kreuzes gegründet, umfasst 189 nationale Gesellschaften. Die Föderation und das IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) gehören zur Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Beide haben ihren Hauptsitz in Genf. Während sich das IKRK auf Nothilfe in bewaffneten Konflikten konzentriert, koordiniert die Föderation die nationalen Gesellschaften.

Die Föderation und ihre Mitgliedgesellschaften haben weltweit Hunderte Millionen an Spendengeldern zur Verfügung, 300 000 entlöhnte und 13 Millionen freiwillige Mitarbeiter. Und sie haben eine Mission: «die humanitären Aktivitäten der nationalen Gesellschaften zu inspirieren und zu fördern, mit dem Ziel, menschliches Leid zu verhüten und zu lindern, um damit zur Wahrung der menschlichen Würde und zum Frieden in der Welt beizutragen». Auf den Webseiten der nationalen Gesellschaften ist zu lesen, dass man alles unternehme, um Menschen auf der Flucht zu helfen.

Frederic Baumann, ein Schweizer Arzt, war im Oktober in Slowenien im Einsatz. Zu dieser Zeit schlossen die ersten Länder ihre Grenzen, und die Menschen kamen nicht mehr weiter. Es herrschte eisige Kälte, es gab nicht genug zu essen, zu wenig sauberes Wasser, Kinder schliefen in zu Bettchen umfunktionierten Kartonschachteln. Baumann und seine Frau Michela Widmer halfen in Rigoncé. «Ich hatte Medikamente gekauft und war 72 Stunden fast pausenlos im Einsatz», erzählt er am Telefon. Er habe Patienten behandelt, denen die Mitarbeiter des Roten Kreuzes nicht helfen konnten. Dann gingen ihm die Medikamente aus. «Das Rote Kreuz hatte ein Lager mit Vorräten. Aber sie haben mir nichts gegeben.» Nichola Jones, Sprecher der Internationalen Föderation erklärt, das Rote Kreuz lasse keine Hilfsgüter durch Dritte verteilen. Das widerspreche dem Grundsatz der Neutralität.

Marit Neukomm, Gründerin der privaten Organisation «Volunteers for Humanity», im November 2015 im Norden der Insel Lesbos im Einsatz, erzählt: «Hier war niemand vom Roten Kreuz. Es war die schwedische NGO ‹Lighthouse›, die ein Erstauffanglager führte. Sie haben Land gemietet von einem Griechen und dürfen dort für sechs Monate ihr Camp stehen haben.» Nichola Jones sagt, das Rote Kreuz patrouilliere täglich im Norden von Lesbos. Aber er sagt auch auf wiederholte Nachfrage nicht, wie gross dieses Team ist. Neukomm dazu: «Keiner von uns hat je jemanden vom Roten Kreuz gesehen. Der Strandabschnitt, den wir betreuten, war 20 Kilometer lang. Es kamen pro Tag 3000 Menschen an. Wir haben sie allein aus den Booten geholt, mit Nahrung und Kleidern versorgt und ins nächste Camp gefahren. Ich sage nicht, dass das Rote Kreuz gar nicht auf der Insel war. Aber wenn sie da waren, war ihre Hilfe ein Witz, verglichen mit dem, was privat organisierte Freiwillige geleistet haben.»

Selma Kuyas, Mitgründerin des privaten Hilfswerks «Tsüri hilft», erzählt: «Als wir mit dem Lastwagen ins Land einreisen wollten, hat das Rote Kreuz geholfen. Wir bekamen ein Formular, das uns als einen ihrer Zulieferer bezeichnete. Bei der Bürokratie sind sie hilfreich. Aber draussen, wo die Menschen sie bräuchten, sind sie kaum zu sehen.»

Freiwillige wie Selma Kuyas, Marit Neukomm, Frederic Baumann und Michela Widmer – um nur einige von sehr vielen zu nennen – sind in kürzester Zeit da, wo Hilfe nötig ist. Während die Rotkreuzgesellschaften Wochen brauchen. Markus Mader versucht zu erklären: «Die Rotkreuzgesellschaften sind je nach Land unterschiedlich in die staatlichen Dispositive eingebunden. Ihre Leistungen hängen einerseits von ihren Ressourcen ab, andererseits von den Aufgaben, die der Staat ihnen überträgt, bzw. den Handlungsmöglichkeiten, die er ihnen lässt – dies sind Faktoren, die von aussen nicht beeinflusst werden können.»

UNGARN, Oktober 2015

Am 11. September 2015 veröffentlicht das SRK auf seiner Homepage folgende Mitteilung: «Die Rotkreuzgesellschaften in Deutschland, Österreich und weiteren Ländern entlang der Migrationsroute leisten einen enormen Einsatz, um die Behörden bei Empfang und der Unterbringung der Menschen auf der Flucht zu unterstützen. (...). Abklärungen von erfahrenen Fachleuten des Schweizerischen Roten Kreuzes haben ergeben, dass derzeit kein Bedarf an der Verstärkung durch freiwillige Helferinnen und Helfer aus der Schweiz besteht.»

Das sehen Anja Dräger und Selma Kuyas anders. Weil sie nicht mehr aushalten, was sie täglich in den Nachrichten sehen, gründen sie «Tsüri hilft», eine der ersten Schweizer Freiwilligenorganisationen, die auf dem Balkan Hilfe leisten. Im Oktober versorgen sie mit einem Team von rund 60 Helfern in wenigen Tagen Tausende Männer, Frauen und Kinder mit warmen Kleidern und trockenen Schuhen, heissem Tee und Suppe. Tag und Nacht. Sie verbinden Wunden, transportieren mit ihren Autos diejenigen vom Bahnhof Hegyeshalom zu ihrem improvisierten Camp, die den mehrstündigen Fussmarsch nach einer sehr langen Zugfahrt nicht mehr schaffen würden. Nachts ist es eiskalt, die Menschen kommen zum Teil barfuss oder in Schuhen ohne Sohle, viele Kinder haben keine Jacke, manche nicht mal Hosen. Besonders schlimm ist es bei Regen, vor allem für die Kinder. Viele sind unterkühlt, zittern am ganzen Körper, wirken apathisch.

Das erste Zelt, das die Flüchtlinge an der Strasse zu sehen bekommen, ist das vom Ungarischen Roten Kreuz. Dort stehen ein paar Kisten mit Sandwiches bereit, dazu Wasserbeutel, die man mit den Zähnen aufreissen und in einem Zug austrinken muss. Für die Kinder sind sie wenig geeignet. Personal sieht man kaum. Das sitzt in der Lagerhalle der alten Zollstation von Hegyeshalom, wo einer ihrer Freiwilligen zwischen Bergen von Kleidern Brötchen schmiert. Als «Tsüri hilft» die Schuhe und Jacken auszugehen drohen und sie das Rote Kreuz um Nachschub bitten, lehnt das Personal ab. Später erzählt ein Rotkreuzvolontär zwei Helferinnen von «Tsüri hilft», dass seine Gesellschaft die Anweisung habe, möglichst wenig herauszugeben. Die Spenden, obwohl für die Flüchtenden gesammelt, würden sie an Weihnachten lieber an ihre armen Landsleute verteilen. Nichola Jones, Sprecher der Internationalen Föderation, erklärt auch in diesem Fall, das Rote Kreuz lasse keine Hilfsgüter durch Dritte verteilen. «Es gehört zu unseren Leitlinien, buchhalterisch korrekt und ideologisch neutral zu sein.»

Markus Cott, ehemaliger Mitarbeiter des IKRK, erklärt, dass die Rotkreuzgesellschaften der einzelnen Länder nicht nur dem humanitären Auftrag der Organisation, sondern auch den Weisungen der nationalen Regierungen verpflichtet seien. «Es ist institutionell so geregelt, dass sie als humanitäre Organisation Geld vom Staat bekommen. Je nach Regierung sind die Beträge grösser oder kleiner.» Je nach Weisung fällt die Hilfsbereitschaft des Roten Kreuzes also grösser oder kleiner aus. Die Frage, wie der offizielle Auftrag an das Ungarische Rote Kreuz ausgesehen habe, beantwortet die Föderation nicht.

Eine ehemalige Mitarbeiterin des IKRK, die ungenannt bleiben möchte, ergänzt: «Oft ist der Präsident oder die Präsidentin der jeweiligen Rotkreuzgesellschaft Ehepartner eines Spitzenpolitikers des jeweiligen Landes.» – In den 90er-Jahren war Mirjana Markovic, die heutige Witwe von Slobodan Miloševic, die Vorsitzende der Serbischen Rotkreuzgesellschaft.

SERBIEN, November 2015

Vanja Crnojevic, die Gründerin der privaten Hilfsorganisation «Borderfree Association», erzählt, was sie 2014 beim Hochwasser in Bosnien mit dem Serbischen Roten Kreuz erlebt hat: «Die hatten ein Haus voller Kleider, Möbel, Essen, Medikamente, haben aber kaum etwas verteilt, sondern die Sachen später verkauft.» Ein Kroate, der zurzeit als Freiwilliger in Idomeni im Einsatz ist und ebenfalls anonym bleiben möchte, sagt unabhängig von Vanja Crnojevic, es hätten darum so viele aus der Zivilbevölkerung angefangen, freiwillige Hilfe zu leisten, weil viele die Rotkreuzgesellschaften der Staaten des ehemaligen Jugoslawien für korrupt hielten. Bei der Föderation heisst es auf Nachfrage, man habe noch nie von Korruption gehört.

Vanja Crnojevic, eine Bosnierin, war im Alter von zwölf Jahren als Flüchtling auf derselben Route unterwegs, die die Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Iran, aus Eritrea, Pakistan oder Marokko bis vor kurzem nahmen.

Seit August 2015 ist sie in Serbien fast ständig im Einsatz. Ihre Organisation ist eine der effizientesten privaten Hilfsorganisationen in Preševo, Serbien. Weil sie die Sprache spricht, die Mentalität der Serben kennt und vor allem das Talent hat, die meisten wichtigen und halb wichtigen Männer der Stadt, von Polizei und Armee um den Finger zu wickeln. Sie hat ein Netzwerk aus Informanten und Vertrauten aufbauen können, ohne das es unmöglich wäre, hier etwas auszurichten. Crnojevic hat einheimische Busfahrer sogar dazu gebracht, diejenigen umsonst an die kroatische Grenze zu fahren, die kein Geld mehr haben.

Im November ist die Situation prekär in Preševo. Pro Tag kommen mehr als 10 000 Flüchtlinge hier an. Die Frauen, Kinder und Männer müssen manchmal über zehn Stunden Schlange stehen, bis sie das Camp mit der Registrierstelle erreichen, zusammengepfercht hinter Absperrgittern wie Vieh, angebrüllt von der überforderten Polizei. Auf der etwa zwei Kilometer langen, von lärmenden Männern überfüllten Strasse ist vom Serbischen Roten Kreuz niemand zu sehen. Es sind Vanjas Volontäre und die «United Volunteers of Preševo», ein weiteres privates Hilfswerk, die Wasser, Essen oder in den kalten Nächten Tee und warme Kinderkleider verteilen. Das einzige professionelle Hilfswerk, das sich ausserhalb des Camps um die Ankommenden kümmert, ist «Ärzte ohne Grenzen». Die Praxis, eingerichtet in einem leer stehenden Laden, ist rund um die Uhr besetzt von Kranken und Geschwächten. Das Rote Kreuz sei im Camp präsent, erzählen Flüchtlinge, die dort waren. Laut dem Serbischen Roten Kreuz gibt es im Camp «humanitäre Hilfe» für Frauen und Kinder, für über 60-Jährige und Kranke. Von den privaten Helfern darf niemand rein, die Polizei riegelt das Gelände ab. Zwei Iraker, ein Libanese und ein junger syrischer Ingenieur berichten unabhängig voneinander von massiver Polizeigewalt im Camp. Es gebe zwar Schlafplätze in grossen Zelten, «aber keiner will bleiben», sagt der Ingenieur. «Seit ich aus Syrien weg bin, ist das der schlimmste Ort, an dem ich je war.»

Auf die Anfrage bei der Föderation, warum das Serbische Rote Kreuz nur im Camp aktiv sei und nicht draussen, wo die Menschen sich viel länger aufhalten müssen und Hilfe bitter nötig hätten, bekommt man nur Floskeln zur Antwort. Das Mail, das ursprünglich ans Serbische Rote Kreuz ging, wird von Pressesprechern der Föderation vom Büro in Budapest aus beantwortet. Auf die Frage, ob sie überhaupt wüssten, was sich in Preševo abspielt, antwortet niemand mehr. Auf eine weitere Nachfrage meldet sich schliesslich der Sprecher des Serbischen Roten Kreuzes: «Die Arbeit des Serbischen Roten Kreuzes ist so organisiert: Die Flüchtlinge werden informiert (auf Serbisch, Englisch und Arabisch), dass sie sich registrieren müssen, bevor sie Hilfe bekommen. Das ist so, damit wir unseren Gönnern sagen können, wer welche Hilfeleistungen erhalten hat.»

Vanja Crnojevic möchte mit ihren Leuten auch innerhalb des Camps arbeiten. Aber dafür braucht man eine Bewilligung von der Stadt. Diese zu bekommen, dauert. «Eines Tages kam der Platzchef des Serbischen Roten Kreuzes zu mir und sagte, für 500 Euro könne er mir eine Bewilligung besorgen», erzählt sie. Andrea Schmid, Programmverantwortliche des SRK, war im Dezember in Preševo. Von einem korrupten Platzchef wisse sie nichts, sagt sie. «Ich habe ihn nur kurz gesehen. Ich kann nicht beurteilen, ob das stimmt.» Das SRK unterstützt das Serbische Rote Kreuz mit 172 000 Franken zur Finanzierung, Beschaffung und Verteilung von warmen Kleidern, Schlafsäcken und Matratzen. Das entspreche dem, worum sie gebeten worden seien. Auf die Frage, wie man kontrolliere, wofür das Geld ausgegeben wird, sagt Andrea Schmid: «Wir bekommen regelmässig Berichte über die Verteilungen an die Begünstigten und Abrechnungen und Auszüge über die beschafften Hilfsgüter. Zudem überprüfen wir die Hilfeleistungen mit Feldbesuchen direkt vor Ort.»

GRIECHENLAND, Anfang 2016

Ende Januar veröffentlicht die Föderation ein Merkblatt, wie man sich als Flüchtling gegen die extreme Kälte in Europa wappnen solle. Das Blatt kommt heraus, nachdem laut UNHCR bereits 1 157 008 Menschen in Europa angekommen sind und allein dieses Jahr 440 für tot oder vermisst erklärt wurden. Viele von ihnen sind ertrunken, manche erfroren.

Auf Englisch, Farsi, Arabisch und Urdu klärt der Dachverband nun darüber auf, dass es lebensgefährlich sein könne, wenn man sich für lange Zeit im kalten Wasser befunden habe und anschliessend nichts Trockenes anziehe. Er rät, Wolldecken nur dann zu behalten, wenn sie nicht nass sind. «Wenn Sie es sich leisten können, kaufen Sie sich besser einen Schlafsack, der ist wärmer und leichter zu tragen.» Oder: «Tragen Sie wasserdichte, isolierte Stiefel. Wenn Ihre Schuhe nass sind, versuchen Sie sie so schnell wie möglich zu trocknen.» Wenn trotzdem jemand an Unterkühlung leide, solle man sich an das Erste-Hilfe-Personal des Roten Kreuzes wenden. Oder in eine Klinik gehen. Einer lebensbedrohlich unterkühlten Person solle man nur dann durch das Zuführen von Wärme helfen, etwa mit einem heissen Bad, wenn keinerlei medizinische Hilfe in Aussicht stehe.

Wie die Menschen, nachdem sie die Fahrt über das Mittelmeer überlebt haben, zu trockenen Kleidern, zu wasserdichten Schuhen, einer Unterkunft, in eine Klinik oder an ein heisses Bad kommen sollen, dazu sagt das Rote Kreuz nichts. Dafür aber: «Wir sind überregional dafür anerkannt, die Besten zu sein, wenn es darum geht, Menschen in Not zu helfen.»

Lesbos, seit August 2015

Michael Räber aus Münsingen beendet seine Ferien in Griechenland, als immer mehr von den «Boats of Death» ankommen, wie die Flüchtlinge die Gummiboote nennen. Räber fliegt nach Hause und nach wenigen Tagen wieder zurück, um zu helfen. Er beginnt als Einzelkämpfer – und kann schon binnen Tagen viel bewegen.

«Ich habe mit einem Budget von 800 Euro angefangen», sagt er. Als selbstständiger IT- und Unternehmensberater wusste er, was zu tun war. Er gründete die Aktion «schwizerchrüz.ch», die mittlerweile international unter dem Namen «swisscross.help» bekannt ist. Räber schaut sich die Zahlen an, die das SRK auf seiner Homepage veröffentlicht hat: «320 000 Franken für Personal, Hilfsgüter und medizinische Versorgung in Griechenland? Da habe ich ja seit August mehr Geld ausgegeben!» Räber arbeitet mit Spenden von Privatpersonen. Mittlerweile bekommt er Unterstützung aus England, Kanada, den USA und sogar China. «Weil wir keine gemeinnützige Organisation sind und ich niemandem Rechenschaft schuldig bin über die Finanzen, entfällt die Administration.» Deshalb sind sie schnell. Sobald jemand eine gute Idee hat, gehen sie einkaufen und setzen sie um. Sein Team arbeitet in Fünfergruppen, Tag und Nacht. «Wir haben mobile Flutlichter und leuchten denjenigen, die die Boote an Land ziehen. Wir haben heissen Tee und Kleider dabei und führen die Ankommenden zu den Bussen, die sie in die sogenannten Konzentrationslager in Moria fahren.» «Konzentrationslager» sei tatsächlich der Begriff, den die Mitarbeiter des Hellenischen Roten Kreuzes verwenden. «Wir haben sie gefragt, ob sie sicher seien, dass sie das so sagen wollten. Ihre Antwort: ‹Ja, warum nicht? Das ist ein technischer Begriff.›»

Michael Räber vermutet, das Rote Kreuz sei darum so träge, weil es ein Administrationsmonster ist. «Das haben wir auch beim UNHCR und beim International Rescue Committee (IRC) beobachtet. Das dürfte systemimmanent sein, dass die Grossen eine gewisse Anlaufzeit brauchen. Dafür nehmen sie in Kauf, dass Menschen sterben.» Das IRC, das Flüchtlingscamps im Norden von Lesbos betreut, ist eine Organisation, die letztes Jahr 397.9 Millionen Dollar Umsatz gemacht hat. Deren Chef, David Miliband, Bruder des ehemaligen Labour-Vorsitzenden Ed Miliband, verdient 612 000 Dollar. «Jedes Mal, wenn ich das IRC-Logo sehe, frage ich mich: Was macht ihr hier eigentlich?», sagt Räber.

Idomeni, Februar 2016

Vanja Crnojevic ist von Preševo nach Idomeni geeilt und hat damit begonnen, Brot, Seife und Zahnbürsten zu verteilen. «So etwas habe ich noch nie gesehen», schreibt sie danach auf ihrer Facebook-Seite und postet Fotos und Videos, die das Elend dokumentieren. Es fehlt an allem. Die Helfer der holländischen «aiddeliverymission.org» sind die Einzigen, die warmes Essen ausgeben. Die Journalistin Jeannette Hagen sagt: «Ich habe das Rote Kreuz überhaupt nicht gesehen. Die ‹Ärzte ohne Grenzen› sind vor Ort und einige privat organisierte Initiativen. Das Lager ist sehr unübersichtlich. Es ist das Schlimmste, was ich bisher gesehen habe. Müll, Dreck, Menschen auf engstem Raum, der Witterung ausgeliefert. Aber sie harren aus. Ich glaube, sie haben schon so viel erlebt, die wird nichts mehr aufhalten. Eher sterben sie hier.»

Marit Neukomm von «Volunteers for Humanity» sagt: «Von den Profis ist nur ‹Ärzte ohne Grenzen› zu gebrauchen. Sie haben ein Stück Land gemietet, um hier legal arbeiten zu können. In fünf Tagen haben sie mehrere grosse Zelte aufgebaut, verteilen auch kleine an Familien. Sie sind rund um die Uhr im Einsatz, während das Rote Kreuz nur zu Bürozeiten arbeitet.» Caroline Haga, Emergency Communications Delegate der Internationalen Föderation, sagt: «Unser Team ist vor Ort und arbeitet nach Absprache mit anderen Medizinern in Schichten.» Wie viele Mitarbeiter vor Ort sind, sagt sie nicht. Auf die Frage, wie sie die Situation in Idomeni beschreiben würde, verweist Haga auf die «Berichte glaubwürdiger Medien».

Das Hellenische Rote Kreuz schreibt auf seiner Homepage, man verteile Hilfsgüter und leiste medizinische Hilfe in Idomeni. Zwischen den Zeilen kann man Überforderung herauslesen: «Wir brauchen dringend mehr Unterstützung. Familien, Alte und Behinderte, Babys und Kleinkinder haben keine angemessene Unterkunft. Die politische Unentschlossenheit der Länder entlang der Balkanroute macht es unmöglich, den Menschen die Hilfe zu geben, die sie am dringendsten nötig hätten: Sicherheit und die Wahrung ihrer Würde.»

Die Flüchtlingskrise dauert seit August an. Aber die Rotkreuzgesellschaften – «überregional dafür anerkannt, die Besten zu sein, wenn es darum geht, Menschen in Not zu helfen» – schaffen es nicht, ihre Hilfe besser zu koordinieren. Oder einen Notfallplan zu entwickeln, der sie flexibler handeln liesse. Die Föderation dazu: «Die sich ständig weiterentwickelnde Notlage macht die Hilfe für uns zur Herausforderung. Wir sind bestrebt, diese zu bewältigen.»

Keine Organisation kann diese Krise allein meistern. Markus Mader, Direktor des SRK, versucht es so zu erklären: «Die staatlichen Behörden sind für alle Massnahmen im Zusammenhang mit den Migrationsströmen verantwortlich und teilen den verschiedenen nicht staatlichen Organisationen wie dem Roten Kreuz entsprechende Aufgaben zu.»

Solange die EU-Staaten sich nicht einigen können, was mit den Flüchtlingen geschehen soll, können sich also auch die Rotkreuzgesellschaften nicht besser koordinieren? Dabei zählt die Föderation die politische Unabhängigkeit zu ihren wichtigsten Richtlinien: «Die nationalen Gesellschaften, auch wenn sie Hilfsgruppen ihrer Regierungen und den Gesetzen ihres jeweiligen Landes unterworfen sind, müssen stets ihre Autonomie bewahren, sodass sie jederzeit den Prinzipien des Hilfswerks entsprechend handeln können.» Das erste Prinzip ihres «Code of Conduct» lautet: «The humanitarian imperative comes first.» – Das Gebot der Menschlichkeit kommt zuerst. Zumindest auf dem Papier.

 

Erschienen am 26. März in "Das Magazin" des Tages-Anzeigers.

(Anders als vom Schweizerischen Roten Kreuz in einem Leserbrief behauptet, gehöre ich keiner der oben genannten Freiwilligenorganisationen an.)

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