Der Alkohol, dein Feind und Helfer

Martin (Mads Mikkelsen) und drei Lehrerkollegen wollen ausprobieren, ob das Leben mit 0,5 Promille Alkohol im Blut leichter wird. Das Experiment startet vielversprechend, aber gerät bald ausser Kontrolle. Die Tragikomödie über vier Freunde in der Midlife-Crisis gehört mit «Festen» und «Jagten» zu Thomas Vinterbergs besten Filmen.

Tommy, Peter und Nikolaj, die besten Freunde von Martin (Mads Mikkelsen) machen sich Sorgen. Er wirkt so dumpf und freudlos. Martin selbst würde dem nicht widersprechen. Sorglosigkeit und Lebensfreude begegnen dem Geschichtslehrer höchstens noch in Gestalt seiner Schülerinnen und Schüler, die im Schulhaus an ihm vorbeirennen. Er weiss, dass er seiner Klasse, die kurz vor dem Abitur steht, kein guter Lehrer ist, und will sich bessern. Aber wie?

Nikolaj (Magnus Millang) hat die Lösung. Als er mit seinen Freunden seinen vierzigsten Geburtstag feiert, erzählt er ihnen beim Champagner von der Theorie eines norwegischen Psychiaters: «Er glaubt, die Menschen würden mit 0,5 Promille zu wenig Alkohol im Blut geboren.» Nikolaj meint, diese 0,5 Promille würden Martin doch guttun.

Am Tag darauf beschliessen die Freunde, allesamt Lehrer an derselben Schule, das Experiment zu wagen, kontrolliert mit dem Messgerät und von strengen Regeln. Nikolaj protokolliert die «Evidenz zu psychologischen, verbalmotorischen und psychorhetorischen Auswirkungen» und allfällige «gesteigerte soziale und fachliche Leistungsfähigkeit». Wir lesen in weissen Buchstaben auf schwarzer Leinwand mit, was Nikolaj tippt. Wir sind ihre Zeugen.

Und tatsächlich: Es funktioniert. Die vier Lehrer fühlen sich grossartig, euphorisch, ihre Klassen lieben sie. Als man sich schon fragt, worauf Thomas Vinterberg mit «Another Round» hinauswill, ob das eine Verherrlichung des Rauschs werden soll, eine Provokation à la Lars von Trier, kehrt die Melancholie des Anfangs in die Geschichte zurück.

Mit dem zurückgewonnenen jugendlichen Übermut der alternden Männer steigt ihre Lust auf immer mehr von diesem Rausch, und das Experiment artet aus. Bis dahin hat der Alkohol die vier Freunde zu glücklicheren Menschen gemacht. Aber allmählich richtet er mehr Zerstörung an, als sie sich eingestehen wollen.

Selbst wenn die Freunde sich wie leichtsinnige Jungs benehmen, weil der Recherchezweck das Trinken ja rechtfertigt, ist «Another Round» keiner dieser dümmlichen Buddy-Filme voller Fäkalhumor, in denen man Männern dabei zusehen muss, wie sie sich blamieren.

Vinterberg macht deutlich genug, aber ohne es uns lehrerhaft unter die Nase zu reiben, dass dieses Experiment für jeden der vier Freunde eine Art von Fluchtversuch ist. Doch so betäubend der Rausch auch sein mag, sie bleiben doch mit einem Fuss in der Realität stecken, der sie als Väter und Lehrer, als Erwachsene mit Verantwortung, nicht mehr so leicht entkommen können wie in jungen Jahren.

Diese Ambivalenz erdet «Another Round». Vinterbergs Film ist eine Tragikomödie über Männer, die sich vor dem Altern fürchten. Eine Ode an den Rausch und zugleich eine Warnung vor dem Alkohol, diesem Helfer und Feind, dem billigen Mittel gegen Unzufriedenheiten und Sprachlosigkeit in emotionalen Notlagen – und Bestandteil der dänischen Tradition.

«Another Round» gehört mit «Festen» (1998) und «Jagten» (2012) zu den besten Filmen des dänischen Regisseurs. In «Festen», einem der bekanntesten Filme der «Dogma 95»-Bewegung, die er 1995 zusammen mit Lars von Trier gegründet hat, entblösst Vinterberg eine dänische Oberschichtsfamilie. Da offenbart der Sohn beim Geburtstagsfest des Vaters, von diesem als Kind sexuell missbraucht worden zu sein. Der Naturalismus sieht zwar hässlich aus, holt die Inszenierung aber schockierend nah an die Realität heran.

Den Verzicht auf Künstlichkeit gaben die Dogma-Regisseure 2005 wieder auf, aber nicht die Idee, Tabuthemen zu bearbeiten. Während Lars von Trier sich mehr und mehr zum berechenbaren Provokateur entwickelt hat, zum Zyniker sogar, ist Vinterberg ein Regisseur geblieben, der zwar Abgründe zeigt und zum Hinsehen zwingt, wo man lieber wegschauen möchte. Aber er macht das anhand von Figuren , die einem sehr nahe kommen, statt abstossend zu sein.

Das Beste an Thomas Vinterberg ist: Er moralisiert nicht. Er sagt nicht, wer zu den Guten und wer zu den Bösen gehört, das wäre ihm zu banal. So lässt er aus auch bei «Another Round» am Ende allein mit der Frage, was für Konsequenzen Martin aus seinem Rausch-Experiment ziehen wird.

 

Zuerst erschienen am 29.4.2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Pathé)