Der Euro-Mann
Je platter die Charaktere, desto höher Hollywoods Profite. Einer von vielen Gründen, warum der dänische Regisseur Anders Thomas Jensen für die Studiobosse ein Albtraum wäre.
Der Held aus Hollywood hat Muskeln und Mut, besitzt Superkräfte oder ist schwer bewaffnet. Ob Terminator, Superman, Indiana Jones, Soldat oder Feuerwehrmann – er rettet eine Frau, eine Stadt oder gleich die ganze Welt. Die Moral der Geschichte ist simpel, komplex sind nur die Spezialeffekte. Der stereotype Hollywoodheld beweist seine Männlichkeit, indem er dem Fremden mit Gewalt begegnet, Probleme löst er mit der Faust oder mit Dynamit.
Diese Figuren spiegeln das obsessive Verhältnis der USA zur Gewalt. Zum Beispiel «American Sniper», Clint Eastwoods Film über den Heckenschützen Chris Kyle, der im sogenannten Krieg gegen den Terror mehr als 160 Iraker erschoss und in der Heimat dafür gefeiert wurde. Das Werk befeuert den Patriotismus und unterlässt es, die Rolle der USA in dem Konflikt zu analysieren. Die «New York Times» kritisierte, Eastwood reduziere den Krieg und seine Folgen auf billige Unterhaltung. Aber das Publikum liebte den Heckenschützen. Der Film spielte weltweit über eine halbe Milliarde Dollar ein, in den USA war «American Sniper» der beliebteste Film des Jahres 2014. Gefolgt von epischen, schrillen und actiongeladenen Comicverfilmungen wie «Captain America», «Guardians of the Galaxy» oder «X-Men».
Während die Helden der brillanten US-Fernsehserien der letzten Jahre jede Mengen Schwächen haben – der phobische Mafiaboss Tony Soprano etwa oder Don Draper in «Mad Men», ist das für den Helden, der beim Kinopublikum ankommen soll, undenkbar. Er darf keine Fehler machen, und sein Charakter muss frei sein von Komplexität, mit anderen Worten: frei von allem Menschlichen. Hollywoodfilme über schwache Männer wie «Inside Llewyn Davis» oder «The Place Beyond the Pines» liefen nicht gut. Letzterer spielte, trotz Ryan Goslings in der Hauptrolle, nur 35 Millionen Dollar ein, etwa das Doppelte seiner Kosten. Zum Vergleich: Bei «American Sniper» stehen Kosten und Einspielquote im Verhältnis 1:10.
Das einzige Genre, in dem amerikanische Männer schon immer Schwäche zeigen konnten, ist die Komödie. Dort müssen sie Versager oder Tollpatsche sein. Grandiose Beispiele dafür, allerdings oft nicht aus Hollywood, sind Woody Allens «Annie Hall», «Groundhog Day» von Harold Ramis, «The Royal Tenenbaums» von Wes Anderson oder «Fargo» von Joel und Ethan Coen. Die Filme über diese Antihelden leben von einer dunklen, absurden Komik, von komplexen Figuren, manchmal auch, wie bei Wes Anderson, von einer verspielten Ästhetik. Nur – lukrativ sind diese Filme nicht.
Der Charme der Fehlbarkeit
Ganz anders Komödien mit stereotyper Storyline und platten Figuren. Schon «There’s Something About Mary» aus dem Jahr 1998 oder «American Pie» (1999) spülten mehrere Hundert Millionen Dollar in die Kassen der Produzenten. Es fällt auf, dass der Humor der massentauglichen Komödie seither kontinuierlich einfältiger geworden ist. Besonders die beliebten Buddy-Movies wie «The Hangover», «Neighbors» oder «Ted» setzen auf Infantilität, Fäkalhumor, Sexismus, oft auch Rassismus wie im vergangenen Jahr «Get Hard» von und mit Will Ferrell. Solche Komödien rechnen sich so wie Heldenfilme: «Hangover I» hat 467 Millionen Dollar umgesetzt, «Ted I» 550 Millionen.
Anders als Hollywood setzt das europäische Kino auf den Charme menschlicher Fehlbarkeit. Die amerikanische Filmkritikerin Pauline Kael formulierte es so: «Die Europäer haben weniger Probleme damit, interessante Helden zu schaffen. Sie wollen Figuren, die uns mit ihren Schwächen, ihrer Weisheit, ihrer Komplexität rühren, nicht durch stumpfen Heroismus.» Das stimmt für Dramen ebenso wie für Komödien. «Honig im Kopf», die Tragikomödie von Til Schweiger über einen Alzheimerkranken, war 2014 der erfolgreichste Film in Deutschland. «Qu’est-ce qu’on fait au Bon Dieu?» («Monsieur Claude und seine Töchter»), eine Komödie über Rassismus, wurde in Österreich und der Schweiz nur knapp von «The Hobbit» geschlagen. «American Sniper» hingegen taucht in den Top 10 der drei Länder nicht auf. Europäische Filme wiederum sind in den USA nur wenig beliebt. Einerseits, weil es ausserhalb der Metropolen keine Kinos für Arthouse-Produktionen oder ambitionierte europäische Filme gebe, andererseits, weil sie dem Geschmack des Publikums nicht entsprächen, sagt Jörg Schweinitz, Professor für Filmwissenschaft an der Universität Zürich.
Beine und Rippchen
Ein Europäer, der sein absurdes Filmuniversum auf lauter schwachen Helden aufbaut, ist der dänische Drehbuchautor und Regisseur Anders Thomas Jensen. Seine schwarzen Komödien, bevölkert mit liebenswerten Idioten, gehören zu den besten Filmen des Genres. In «Flickering Lights» (2000) bleiben vier Kleinkriminelle auf der Flucht vor einem Gangsterboss in den dänischen Wäldern stecken. Zur Tarnung eröffnen sie ein Restaurant und verbringen ihre Zeit damit, sich mit der dänischen Kulturgeschichte vertraut zu machen und ihre Kindheitstraumata aufzuarbeiten. Die vier Freunde haben sich in ihrer Jugend kennengelernt, nachdem sie alle am selben Tag von zu Hause abgehauen sind: Torkilds Vater hat sich an seinem geliebten Apfelbaum erhängt, nachdem der Sohn die einzigen drei Äpfel zerstört hatte, die der Baum nach 18 Jahren trug. Peter wurde von seinem Vater mit einer Kiste Zigarren im Schrank eingesperrt, nachdem er beim Rauchen erwischt worden war. Er dürfe erst wieder rauskommen, wenn er alle Zigarren geraucht habe, befahl der Vater. Einen Moment später sackte er am Esstisch tot vornüber und landete mit dem Gesicht in im Suppenteller.
In «The Green Butchers» (2003), Jensens bösestem Film, eröffnen zwei ehemalige Angestellte eine Metzgerei, in der sie Menschenfleisch verkaufen. Eigentlich wollten sie sich nur an ihrem ehemaligen Chef rächen und drehen ihm den zerkleinerten Oberschenkel eines Unfallopfers als Poulet an. Aber dann wird das Fleisch zum Renner, neue Beine und Rippchen müssen her. In «Adam’s Apples» (2005) wird ein Nazi zu gemeinnütziger Arbeit in einer Kirche verurteilt. Er bekommt es mit einem Priester zu tun, der an das Gute im Menschen glaubt, mit einem Pakistani, einer Alkoholikerin und einem behinderten Kind. Und natürlich mit etwas, das Gott sein könnte.
Die Darstellung menschlicher Schwächen, der Kern von Komödien, wirkt bei Jensen nie ordinär, sondern immer zärtlich. Er geht nicht zimperlich mit seinen Figuren um, aber er verlacht sie nie. Auch Slapstick dient bei ihm nicht allein dem schnellen Lacher, sondern präzisiert den Charakter der Figuren. Die Dialoge sind lustig, weil sie treffen, und nicht nur unter die Gürtellinie.
Jensen macht zwar auch Buddy-Movies – die Männerfreundschaft ist bei ihm ein zentrales Motiv –, aber sie handeln nie von sich austobenden Mittelständlern, denen der Ernst des Lebens droht. Die Bürgerlichkeit, der die Hollywood-Buddies zu entfliehen suchen, existiert in Jensens skurrilen Universen gar nicht erst. Sie würde ihn auch nicht interessieren. Er befasst sich lieber mit Bandengewalt, Kannibalismus, Rassismus oder, wie in seinem neuen Film «Men & Chicken», mit Genmanipulation.
Die drei Irren
Darin geht es um zwei Brüder, die herausfinden, dass ihre Familienverhältnisse deutlich komplizierter sind als gedacht: Gabriel (David Dencik) lehrt Evolutionspsychologie und Philosophie, Elias (Mads Mikkelsen) ist ein Kind im Körper eines erwachsenen Mannes, der seine Tage mit Nichtstun und Masturbieren verbringt. Der kranke Vater hinterlässt ihnen eine Videobotschaft, in der er gesteht, dass er sie adoptiert habe und ihr leiblicher Vater, EvelioThanatos, auf einer winzigen Insel namens Ork lebe. Dort begegnen Gabriel und Elias drei irren Männern, die auf einem heruntergekommenen Anwesen mit Hühnern, Ziegen, Schafen und einem Zuchtbullen zusammenwohnen, sich lieber prügeln als reden, aus Misstrauen gegenüber Kunst und Poesie ausschliesslich Sachbücher lesen und den Kontakt zu Menschen scheuen. Die drei Irren, stellt sich heraus, sind ihre Halbbrüder.
Die Komik ist subtil, schleicht sich an. Manchmal möchte man lieber nicht lachen, weil die Themen viel zu ernst sind. Man tut es dann doch. Gut so. Viele Filme, die sich mit Liebe, Krankheit oder Tod befassen, sind prätentiös. Wenn Anders Thomas Jensen einen solchen Stoff angeht, siedelt er die Geschichte in einer Welt an, die so verrückt ist wie nur möglich. Das erlaubt es ihm, alles zu sagen, was er will, ohne zu moralisieren oder in mit schweren Pianoklängen unterlegte Rührseligkeit abzugleiten. In Hollywood ist es die Gewalt, die zur Katharsis führt, bei europäischen Regisseuren wie Jensen ist es der Humor.
Dass der Actionheld im europäischen Kino wenig verbreitet ist, liegt aber nicht nur an den unterschiedlichen Vorlieben des Publikums, sondern ebenso an der Struktur der Filmindustrie. Hollywood profitiert doppelt: einerseits von seiner Beliebtheit im Ausland – der Marktanteil von US-Produktionen aller Genres lag 2014 in der Schweiz bei knapp 75 Prozent; andererseits von der schieren Masse der amerikanischen Kinobesucher, die einheimische Produktionen den ausländischen vorziehen. In Ländern wie Schweden oder der Schweiz mit viel kleinerem Publikum ist es unmöglich, vergleichbare Beträge einzuspielen.
Kreativer Inzest
Weil in Europa zudem fast alle Filme subventioniert werden und dadurch etwas unabhängiger vom Kassenerfolg sind, spielt hier jenseits des kommerziellen auch der künstlerische Wert eine grössere Rolle. Doch trotz des finanziellen Erfolgs mancher Blockbuster steckt Hollywood in der Krise. Das liegt nicht nur daran, dass immer mehr Zuschauer an Bezahlfernsehsender wie Netflix verloren gehen. Ausgerechnet Steven Spielberg und George Lucas, die Begründer des Blockbusterkinos, sehen in den aufgeblasenen, inhaltslosen Actionspektakeln eine Gefahr für Hollywood. Die Produktionskosten für solche Filme seien gigantisch, entsprechend hoch müsse die Einspielquote sein, damit den Studios kein finanzieller Schaden entstehe. Darum scheue Hollywood das Risiko und habe seine Helden umso lieber, je einfacher sie gestrickt sind.
James Cameron, der Regisseur von «Titanic» und «Terminator», sagt: «Wir haben eine Storykrise.» Und David Cronenberg («Naked Lunch») spricht von einem «kreativen Inzest». Jeder in Hollywood kenne dieselben Dinge, habe dieselben Werte, strebe nach denselben Zielen: Geld und Erfolg. Darum gebe es keine neuen Ideen. Die Studios versuchen dieses Defizit mit Regisseuren und Produzenten aus dem Ausland auszugleichen, ein bekanntes Beispiel ist der Brite Christopher Nolan («The Dark Knight»). Aber, so Cronenberg: «Selbst sehr kreative Leute werden zu Gefangenen, sobald sie nach Hollywood kommen.»
Für die von sich selbst gelangweilten Studios müsste es interessant sein, einen verrückten Europäer wie Anders Thomas Jensen zu engagieren. Aber einen Blockbuster mit makellosen Superhelden und einfältigen Pointen drehen zu wollen – so verrückt ist nicht einmal er.
Erschienen in «Das Magazin» des Tages-Anzeigers am 8. August 2015
(Bild: nifff.ch)