Der Mann für den Skandal

Lars von Trier ist ein Synonym für Provokation. Aber nicht überall. Warum die Dänen sich nicht über «Nymphomaniac» aufregen.

«Lars von Trier provoziert mit Dogville», «Lars von Trier provoziert mit Antichrist», «Lars von Trier provoziert in Cannes» – das waren jeweils die Schlagzeilen, wenn der selbsternannte «beste Regisseur der Welt» einen neuen Film vorgestellt hat. Er selber sagte 2005 in einem Interview: «Provokation ist etwas, worauf ich mich wirklich verlassen kann.» Wer kein Millionenbudget zur Verfügung hat wie die grossen Regisseure in Hollywood, muss sich etwas anderes einfallen lassen, um die im Filmgeschäft überlebenswichtige Aufmerksamkeit zu bekommen. Lars von Trier eigentlich Lars Trier – das «von» hat er 1975 selber hinzugefügt – hat sich seit Beginn seiner Karriere einiges einfallen lassen.

Die Waffen im Kampf um Aufmerksamkeit

Sein einfachstes Mittel der Provokation sind die Titel. Wenn von Trier einen Film Antichrist nennt, kann er sicher sein, den Zorn der Kirche auf sich zu ziehen. Die so entfachten Diskussionen sind günstiger als jede PR-Kampagne und ähnlich effektiv. Wenn der Titel allein noch nichts Böses ahnen lässt, sorgt der Däne mit seiner Art für Aufruhr, die Kamera auch dann noch draufzuhalten, wenn andere Regisseure längst «Cut!» gerufen hätten. Die allerersten pornografischen Darstellungen in einem Spielfilm und das gespielte Irrsein der Figuren in Idioten brachten ihm 1998 in Cannes endlich den Titel des «Enfant Terrible» ein und beschertem ihm seinen ersten internationalen Skandal.

Das wichtigste Mittel aber ist er selbst, wenn er mit seinen Statements für Aufruhr sorgt, meist bei Pressekonferenzen an Festivals. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte sein Kampf um Aufmerksamkeit vor drei Jahren in Cannes, als er mit dem zwar irritierenden, aber keineswegs anstössigen Melancholia im Wettbewerb war und von sich sagte, er sei ein Nazi. Den fast identischen Satz hatte er bereits 2005 in einem Interview gesagt, als es um seinen biologischen Vater ging: «Bis dahin dachte ich immer, ich sei jüdischer Abstammung. Tatsächlich bin ich aber eher Nazi». Damals ist nichts passiert. Erst die Festivalleitung in Cannes zollte dem Provokateur den nötigen Respekt und verwies ihn vom Platz. Von Trier machte das Beste draus und verordnete sich ein Redeverbot.

Beredtes Schweigen

Er hält sich seither mehr oder weniger konsequent daran, setzt sein Schweigen aber als aussagekräftiges Mittel ein, wenn es die Situation erfordert. Im Rahmen der PR-Kampagne zu Nymphomaniac war er auf einem Bild mit zugeklebtem Mund zu sehen, was etwa soviel heissen mochte, wie: «Ihr wisst ja, was passieren würde, wenn ich dazu etwas sagte...» und überliess das Reden bzw. Streuen von Informationen stattdessen seiner PR-Agentur. Philip Einstein Lipski, der Kampagnenleiter, bezeichnete die Serie von Trailern und Orgasmus-Plakaten als «Vorspiel zum Film». Die Rechnung ging auf, die Spekulationen zu Nymphonaniac waren wild. Wie sich mittlerweile herausgestellt hat, ist der Film kein primitiver Porno, sondern ein weiteres von trier’sches Portrait einer geschundenen Frau. Es gibt zwar viele Sexszenen, aber das ist zu erwarten, wenn es um eine Sexsüchtige geht. Und züchtiges Wegschwenken, sobald es zur Sache geht, verhüllende Unschärfen oder pseudo-intime Close ups von schweissnassen Rücken sind von Lars von Trier nicht zu erwarten. Er zeigt, wie es ist. Das heisst, er zeigt die Dinge so, wie er sie zeigen will.

Hinter dieser provokativen Direktheit steckt aber nicht nur das Spekulieren auf den Skandal. Eine ebenso grosse Rolle spielt sein Trotz. Sein Wille, immer alles anders zu machen, als ‚man’ es macht. So erklärt es Peter Schepelern, Dozent am Dänischen Filminstitut in Kopenhagen, in seinem Vortrag über Lars von Trier, den er am Tag nach der Weltpremiere Anfang Dezember hielt.

Der von Trier-Spezialist erklärt sein Forschungsobjekt

Es ist kühl im hauseigenen Kinosaal, als der Mann mit kleinem Kugelbäuchlein unter schwarzem Pullover vor die Leinwand tritt. «Die Meteorologen haben angekündigt, heute Nacht gäbe es einen schweren Sturm.» Er lacht, seine Wangen schieben seine Brille ein wenig nach oben. «Das wäre der perfekte Hintergrund für unser Thema.» Wie man sich in Dänemark an Stürme gewöhnt hat, so sind dort auch von Triers Filme kein Grund, in Panik zu geraten. Die Fussgängerzone in Kopenhagen ist zugepflastert mit überlebensgrossen Charlotte Gainsbourgs und Stellan Skarsgårds in Ekstase – und niemand dreht den Kopf danach um.

«Diese sehr liberale Einstellung geht auf einen kulturellen Wandel zurück, der Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hat», erklärt Schepelern. Vor allem die Forderungen des dänischen Literaturkritikers und Philosophen Georg Brandes seien wegweisend gewesen. «Brandes war ein Förderer Nietzsches und von einer radikal antiklerikalen Geisteshaltung. Er war gegen die Kirche, gegen Tradition, er lehnte den Romantizismus in der skandinavischen Literatur ab und verhalf ihr damit zum modernen Durchbruch.» Er habe für Freiheit und Realismus in der Kunst plädiert und damit die Zeit des sogenannten «kulturellen Radikalismus» eingeläutet.

Damals erlebte das dänische Kino seine erste Blütezeit. 1906 gründete Ole Olsen Nordisk Film, die älteste noch bestehende Filmgesellschaft der Welt. Man produzierte exotisch-erotische Melodramen, die überallhin exportiert wurden. Das bekannteste Beispiel ist Afgrunden (Abgründe, 1910) von Urban Gad. Der Film stand am Anfang des ‚Goldenen Zeitalters’ des dänischen Kinos und gilt als Meilenstein der Filmgeschichte. Aus Asta Nielsen, die darin die Hauptrolle einer sinnlichen, verzweifelten Frau spielt, wurde einer der ersten richtigen Filmstars.

Brandes’ Nachfolger

«Als George Brandes 1927 starb, trat Poul Henningsen, ein Architekt und Autor, das Erbe Brandes an und avancierte rasch zur neuen führenden Figur in der dänischen Kultur», führt Schepelern weiter aus. Henningsen habe sich gegen den wiederaufflammenden kulturellen Konservativismus stark gemacht und für Aufruhr gesorgt mit seinen modernen Ansichten zum Umgang mit Sexualität oder Kindererziehung. Lars von Triers Eltern seien stark von ihm beeinflusst gewesen, vor allem seine Mutter. «Lars hatte als Kind alle Freiheiten. Interessanterweise hat er später gesagt, diese totale Freiheit habe ihn überfordert. Er macht sie verantwortlich für die Angstzustände, an denen er seit seiner frühen Jugend leidet.» Gleichzeitig seien diese der Motor für sein Filmschaffen.

Legalisierung der Bildpornografie

Nachdem Dänemark 1969 die Zensur abgeschafft und als erstes Land der Welt die Bildpornografie legalisiert hatte, verloren explizite Darstellungen alles Anstössige und wurden nach und nach Teil von Kunst und Kultur. «In den 70er-Jahren, als Lars von Trier ein Teenager war, war diese neue Freiheit essentiell für das kulturelle Leben», sagt Schepelern. «Von Trier las Nietzsche, Strindberg, erotische Literatur wie Justine von Marquis de Sade. Besonders beeinflusst hat ihn Anne Desclos, die in der sadomasochistischen Histoire d’O (1954) detailliert die weibliche Unterwerfung beschreibt. Lars von Trier beschrieb sein Interesse an weiblichen Figuren so: «Meine Mutter hat mich in jahrelanger Erziehungsarbeit davon überzeugt, dass die Gefühle von Frauen echter sind als die von Männern. Und dass es, wenn sie etwas opfern, mehr Wert hat, als wenn Männer etwas opfern. Weil Frauen leidensfähiger sind und so weiter.» Darum seien seine Heldinnen Frauen.

«Im Grunde hat Lars von Trier sich seit Beginn seiner Ausbildung an der Filmhochschule (1979-1983) mit Sexualität und Gewalt auseinandergesetzt», sagt Schepelern. «Von Trier fand, Sex sei eine zu ernste Sache, um sie dem Pornobusiness zu überlassen.» Es wird dunkel im Saal, er zeigt ein paar Filmstills. Menthe (1979), einer seiner ersten Filme, war seine Version der Histoire d’O. Später, als er zusammen mit seinem Produzenten Peter Albaek Jensen die Produktionsfirma Zentropa gründete, entstand die Tochterfirma Innocent Pictures, die frauenfreundliche Pornos produzierte. Die Nachfrage war nicht sehr gross, Innocent Pictures gibt es heute nicht mehr. Aber Zentropa stieg auf zur grössten und wichtigsten Produktionsfirma in Dänemark. Seit der Gründung 1992 hat Zentropa über 100 internationale und skandinavische Spiel- und Dokumentarfilme gemacht, seit 1994 ist es die grösste Produktionsfirma Skandinaviens.

Trotz ist sein Motor

Peter Schepelern macht eine kurze Pause. Die meisten der Anwesenden zücken ihre Smartphones und rufen entweder Wetterseiten oder diejenige des Kopenhagener Flughafens ab. «Mein Flug ist gestrichen.» «Die Brücken sind zu. Mit dem Zug kommst du auch nicht mehr weg.» «Warum fliegt die Air Austria noch? Ist das nicht zu gefährlich?» Peter Schepelern greift wieder zum Mikrophon. «Man konnte damals alles machen, was man wollte, erklärt er, «aber das war noch nicht genug für Lars von Trier. Er musste immer auch noch alles anders machen. Er grinst. «Seine ersten Arbeiten an der Filmhochschule sind alle aus Trotz entstanden.» Das habe auch mit seinem liberalen Elternhaus zu tun. Von Trier selber sagte einmal: «Meine Familie hatte sehr genaue Vorstellungen von Gut und Böse, von Kitsch und guter Kunst. Mit meiner Arbeit stelle ich all das infrage. Ich provoziere nicht einfach nur die anderen; ich erkläre mir, meiner Erziehung, meinen Werten, auch ständig selbst den Krieg. Und ich attackiere die Gutmenschen-Philosophie, die in meiner Familie herrschte.»

In Der Orchideengärtner (1977), einem exhibitionistischen Film, spielt von Trier einen Transvestiten und trägt eine Naziuniform. «Neben Tarkowski war damals David Bowie mein grosses Idol», sagte er. «Wie er musste ich alles ausprobieren.» Nazis tauchten auch später wieder auf in seinem Werk, neben Gewalt, sexueller Freizügigkeit oder Irrsinn, den Themen, die sein Filmschaffen seit jeher prägen. Schepelern nennt es «Kino der Grausamkeit und Bestrafung». Von Trier selber sagte einmal, er wolle unglaubliche Geschichten erzählen und sprach von der Übertreibung als Trick. Er setze sie ein, um den Zuschauer zu ärgern oder zu bewegen: «Das ist gut für mich, aber ich glaube auch, dass das gut für die Leute ist. Natürlich nur, wenn sie erkennen, dass das nicht wahr sein kann, und die Diskrepanz wahrnehmen zwischen dem, was sie im Kino erlebt haben und dem, was sie eigentlich fühlen.» Er wolle seine Zuschauer mit etwas konfrontieren, das nicht in deren System passt.

Dogma 95 – Verordneter Ungehorsam

Ein wichtiges Stück Wegs zum Erfolg von Lars von Trier und Zentropa heisst Dogma 95. Mit diesem Manifest sorgte Lars von Trier 1995 in Paris für Aufruhr. Er verteilte bei einer Feier zum 100. Geburtstag des Französischen Kinos feuerrote Flugblätter, auf denen von einer «Rettungsaktion des Films vor Hollywood» die Rede war; Rettung vor vorhersehbarer Dramaturgie. Vor überflüssiger Action und technischer Kosmetik. Ein «Keuschheitsgebot» auferlegte den Künstlern «10 Gebote». Dazu gehörten technische und ästhetische Vorschriften, die auf totale Authentizität setzten und jegliche künstlerische Extravaganz verboten: Requisiten, Kunstlicht oder Filter waren nicht erlaubt, die Handlung musste im Hier und Jetzt spielen.

«Es ging in erster Linie darum, ein Gegengewicht zu schaffen zum amerikanischen Mainstreamkino mit seinen Genreklischees, Special Effects und seinem Tanz ums goldene Kalb», sagt Schepelern. Filme sollten keine Illusionsnummern mehr sein, sondern die Wahrheit zeigen. Der wohl bekannteste Dogma-Film, der solche grausamen Wahrheiten zeigt, ist Festen von Thomas Vinterberg (1998). «Diese Art, Filme zu machen, erwies sich als Durchbruch zu einem neuen künstlerischen Denken. Ausgerechnet dogmatische Einschränkungen haben zu einer Befreiung geführt», sagt Schepelern. Dann bedankt er sich für die Aufmerksamkeit, lacht und wünscht viel Glück für die Heimreise.

Lars von Trier distanzierte sich dann sehr schnell wieder von seinem Regelwerk und überliess sein Keuschheitsgebot, das auch vorsah, den Namen des Regisseurs im Vor- und Abspann nicht zu nennen, seinen Kollegen. Von Trier will zwar immer noch die Realität zeigen. Die Realität unserer degenerierten und kranken Kultur, wie er sie nennt. Er sagte einmal, er sehe es als seine Aufgabe als Filmemacher, diesen Niedergang zu zeigen. Und das gehe nur, indem er schockiere, beleidige und Schmerzen verursache. Angeblich, so behauptete er, will er damit vor allem sich selbst provozieren. Ohne Frage vermarktet er sich damit selbst.

 

Erschienen in FRAME am 23. Februar 2014