Expedition in die Seele eines Menschen

Das Debüt eines Autors zu lesen, mit dem man 10 Jahre lang liiert war, hat nichts mit bisherigen Leseerfahrungen zu tun. Eine persönliche Lektüre von «Dort» von Niko Stoifberg.

Auf diesen Roman habe ich 18 Jahre lang gewartet. Zehn davon war ich Niko Stoifbergs Freundin. Das Debüt von jemandem zu lesen, mit dem man so lange alles geteilt hat, ist anders als alle bisherigen Leseerfahrungen.

Wann hat man es schon mit einem Werk zu tun, von dessen Autor man weiss, wie er im Schlaf aussieht? Wenn er weint? Oder wochenlang über etwas grübelt, aber kein Wort dazu sagt, bis die Gedanken gar sind?

Das Werk von jemandem, dessen Gedankenwelt man kennt, weil man wiederkehrende Themen immer wieder diskutiert hat? Zum Beispiel: Nichts hat einen Sinn, schon gar nicht das Leben, alles ist Zufall. Oder: Es gibt keinen freien Willen. Wir handeln, wie wir handeln, weil wir aufgrund von Erbgut und Erfahrungsschatz so sind, wie wir sind. So gesehen gebe es keine Schuld, findet Niko Stoifberg, sie sei ein moralisches Konstrukt.

Das müsste uns spätestens seit 1999 klar sein, als das Chromosom 22 als erstes menschliches vollständig entschlüsselt und unsere Art entmystifiziert wurde.

Weil zwölf Nikos Lieblingszahl ist, beginnt «Dort» am 12. August 1999. Der Roman hat zwölf Kapitel. Der Zufall bringt Stoifbergs Protagonisten an den Rand des Abgrunds und einige darüber hinaus. Die Frage nach der Schuld ist es, um die sich alles dreht.

Im Zentrum von «Dort» steht Sebastian Zünd, ein sehr von sich überzeugter Gartenbauer, berühmt geworden mit dem künstlerischen Konzept namens «nature directe»: Er legt Holzstege von Häusern weg in die wilde Natur und behauptet, er definiere damit den Garten neu.

An besagtem 12. August 1999 verliebt er sich, schwarzhaarig und blauäugig, auf den ersten Blick in eine geheimnisvolle Frau in einem weissen Kleid. Sebi glaubt, sie, Lydia, sei alles, was ihm zu seinem Glück noch fehle. Zu feige, sie anzusprechen, stösst er den mongoloiden Buben in den See, auf den sie aufpassen sollte. Er will damit ihre Aufmerksamkeit erregen. Es gelingt, sie verfällt ihm, aber das Kind stirbt.

Was hier am Quai beginnt, entwickelt sich dort, in einem Luxushotel auf einem Berg namens Hohwand, zu einer schwindelerregenden Tragödie. Lydias Mutter Xenia, die auch die Mutter des toten Buben ist, weiss, was Sebi getan hat.

Sie quartiert ihn in einem umgebauten Bunker neben dem Hotel ein, wo auch ihre zwölf Ouvriers wohnen, Hotelangestellte mit Krankheiten, an denen auch die Figuren in «Freaks» von Tod Browning leiden könnten, ein Film, der Niko damals fasziniert hat. Sebi wird zum Gefangenen in einem Gefängnis ohne Gitterstäbe. Was ihn festhält, sind seine Schuldgefühle.

«Dort» ist fiktiv, aber doch ist vieles vertraut, weil es an Orten spielt, an denen wir uns damals bewegt haben: der Quai, der See, das Café du Lac, und vor allem die Hohwand mit Wandweg und Aussichtsplattform, wo Sebi einen seiner Stege bauen soll und wo nachts unheimliche Lichtlein leuchten.

So haben beim ersten Lesen ständig Erinnerungen in die Handlung hineingefunkt, wie ein Störsender. Ich habe Details gefunden, von denen ich glaubte, die verstehe sonst niemand. Das macht sentimental und lenkt vom Denken ab.

Erst beim zweiten Lesen ist es möglich, das alles nüchterner zu betrachten. So nüchtern wie möglich betrachtet ist «Dort»: spannend von der ersten Seite an, aber viel mehr als ein Krimi. Der Roman ist wie eine Expedition in die Seele eines Menschen, der etwas Schlimmes getan hat und mit den Konsequenzen kaum leben kann.

«Dort» ist ein Abgesang auf die jüngere Menschheitsgeschichte:
1-8-5-9, der Code zum Bunker, ist das Jahr, in dem Charles Darwin «The Origin of Species» publizierte, womit die Wissenschaft die biblische Entstehungsgeschichte zum Märchen degradierte, das Leben auf der Erde katalogisierte und wohl den Anfang der Forschung markierte, die es uns heute, im 21. Jahrhundert, erlaubt, ins eigene Genom einzugreifen.

Im Bunker gibt es eine Glastreppe, die aussieht wie eine Doppelhelix; die Ouvriers sind Zeugen einer Zeit, als der Mensch der willkürlichen Natur noch ohnmächtig und zugleich fasziniert gegenüberstand. So wie Sebi, der zuerst Stege in die Wildnis legt, im Laufe seiner Läuterung aber beschliesst, künftig als richtiger Gartenbauer zu arbeiten, die Natur also seinem Willen zu unterwerfen.

«Dort» lebt vom Widerstreit zwischen Leidenschaft und Chaos und dem gleichzeitigen Wunsch nach Ordnung und Kontrolle, dem Widerstreit zwischen Dionysischem und Apollinischem, der auch das Werk von Thomas Mann prägt. Niko verehrt ihn.

Bei ihm selbst kommt das Motiv aber weniger prätentiös daher, allein durch den Kontrast zwischen abgründiger Handlung und zurückhaltend strenger Form: Die Hohwand ist im ersten Teil der Geschichte als Reflexion auf dem Wasser bereits sichtbar, der See ist wie eine Achse, an der sich alles spiegelt. Das Wort «dort» kommt genau zwei Mal vor: in der Mitte des Romans, wie ein Scharnier.

Innerhalb eines präzise abgesteckten Handlungsrahmens und eines klaustrophobisch engen Beziehungsnetzes droht sich das Leben eines Mannes aufzulösen, der glaubt, alles sei planbar. In schauderhaften Träumen drängen nachts die Ängste an die Oberfläche, die er tagsüber wegzudenken versucht.

Etwas vom Schönsten an «Dort» ist die rhythmisierte Sprache, die aber nicht gekünstelt oder distanziert wirkt, sondern sinnlich, weil sie so bildhaft ist und fast haptisch anmutet. Sie lullt ein, hält fest und macht schwindlig. Es ging mir wie Sebi, der oft nicht weiss, ob ihn seine Sinne täuschen.

Bevor ich diesen Roman endlich lesen konnte, hatte ich heimlich die Hoffnung, dass er erklären würde, was mir an Niko ein Rätsel ist. Im Kern gleicht ihm sein Antiheld zwar. Sebi ist ein schweigender Grübler, ein Träumer mit dem Wunsch, Ordnung ins äussere Chaos zu bringen, um das innere Chaos zu ordnen. Aber das macht ihn nicht weniger rätselhaft als seinen Schöpfer.

 

Niko Stoifberg: Dort. Nagel & Kimche 2019. 328 Seiten. Um Fr. 32.- E-Book 20.-


(Erschienen in der « NZZ am Sonntag", Bücher am Sonntag, am 31. März 2019. Bild: Boris Brüggisser.)