Die alte Frau und der Krieg
Allein im evakuierten Dorf: «Nabat» aus Aserbeidschan ist ein Filmdrama um eine Frau, die mit dem Tod von Mann und Sohn ihre Lebensaufgabe verliert.
«Nabat» ist eine wunderschön gefilmte, märchenhafte und manchmal humorvolle Geschichte um eine alte Bäuerin, die sich beharrlich dem Kriegschaos in ihrer Heimat entgegenstellt. Es ist ein Drama um eine Frau, die mit dem Tod von Mann und Sohn ihre Lebensaufgabe verliert. Und ebenso ist der Film ein Porträt von all jenen, die in einem Kriegsgebiet zu überleben versuchen.
Der zweite Spielfilm von Elchin Musaoglu, 1966 in Baku, Aserbeidschan, geboren, ist inspiriert von einer wahren Geschichte. «Ich arbeitete als Dokumentarfilmer für einen Fernsehsender, als ein Freund mir eine Geschichte erzählte, die er erlebt hatte», sagte Musaoglu in einem Interview. Als der Krieg die Bewohner eines Dorfes in Berg-Karabach dazu gezwungen habe, ihre Heimat zu verlassen, habe eine alte Frau sich geweigert, mitzugehen, weil ihre Familienmitglieder dort begraben waren. «Ich sagte mir, dass sich nur eine Mutter so verhalten konnte, und beschloss, einen Film über eine Mutter zu machen. Denn in allen Konflikten sind es stets die Mütter, die am meisten leiden.»
Musaoglus Film spielt Anfang der 90er-Jahre und erzählt von Nabat (Fatemeh Motamed Arya), die ihren todkranken Mann Iskender (Vidadi Aliyev) pflegt und um ihren Sohn trauert. Er ist im Krieg zwischen Aserbeidschan und Armenien um ihre Heimat Berg-Karabach gefallen. Nabat und Iskender leben auf einem abgelegenen Hof oberhalb eines kleinen Dorfes und besitzen nichts ausser ihrem Haus und einer Kuh. Tagsüber arbeitet Nabat pausenlos, nachts hört das Paar dem Gefechtslärm und dem Heulen der Wölfe zu. Nabat fürchtet sich vor den wilden Tieren. Ihr Mann rät: «Stell eine Lampe ins Fenster, das schreckt sie ab. Und richte die Fallgrube im Garten wieder her.» Als das Dorf evakuiert wird, denkt niemand an das alte Ehepaar auf dem abgelegenen Hof. Wenig später stirbt Iskender – ein Windstoss deutet seinen Tod an –, und Nabat bleibt als Einzige zurück. Aber ganz allein ist sie trotzdem nicht: Eine Wölfin mit Jungen sucht ihre Nähe.
Eine Million Vertriebene
Der Konflikt um die Region Berg-Karabach, der dem Film zugrunde liegt, brach 1918 nach dem Zusammenbruch des russischen Zarenreichs erstmals aus und flammte 1991 nach dem Ende der Sowjetunion wieder auf. Damals riefen die Armenier, die in Berg-Karabach lebten, die «Republik Berg-Karabach» aus. Diese wurde von Aserbeidschan und der internationalen Gemeinschaft aber nicht akzeptiert; es kam 1991 bis 1994 zwischen Armenien und Aserbeidschan zum Krieg um die Region. Seit 1994 herrscht Waffenstillstand, Armenien hält das Gebiet aber bis heute besetzt, obwohl der UNO-Sicherheitsrat in mehreren Resolutionen die Rückgabe der Region an Aserbeidschan gefordert hat. Im Krieg und den ihm vorangehenden Auseinandersetzungen wurde eine Million Menschen vertrieben, zwischen 25 000 und 50 000 starben.
Bis auf einige vorbeimarschierende Truppen, ein paar Funksprüche und die Blitze und das dumpfe Knallen von einschlagenden Granaten wird dieser Krieg in «Nabat» aber kaum sichtbar. Der Film konzentriert sich stattdessen auf Nabats Leben. In der ersten Hälfte beobachtet die Kamera sie bei ihrer täglichen Arbeit in der Natur oder im Haus: In langen, harmonisch komponierten Einstellungen sieht man sie ihre Kuh melken, Milch ins Dorf tragen, waschen, bügeln, kochen. Den Hof in Ordnung zu bringen und sich und ihren Mann am Leben zu erhalten, ist ihre wichtigste Stütze. Es lenkt sie ab von der Not und der Trauer um ihren Sohn, der ihr einmal in einer etwas kitschigen Weichzeichnervision erscheint.
Die Routine der entschlossenen, stur arbeitenden Frau bekommt mit der Zeit etwas Rituelles; es wirkt wie ein Stück Sicherheit in einer bedrohlich gewordenen Welt. Musaoglu zeigt Nabat oft mit schwebender, sich ruhig bewegender Kamera. Das gibt dem Geschehen, so schwer das Thema ist, eine Leichtigkeit und grosse Eleganz. Dazu trägt auch das langsame Tempo des Films bei. Dieses dient, anders als bei anderen Vertretern des «slow cinema», keinem künstlerischen Selbstzweck, sondern ist dem Wesen der Hauptfigur geschuldet. Manchmal wartet die Kamera auf sie wie ein geduldiger Begleiter. Manchmal schaut sie durch Nabats Augen, tastet die Umgebung vorsichtig ab. Oft lenkt sie den Blick des Zuschauers und legt eine Spur, die wir rätselnd verfolgen.
Die metaphorische Natur
Als Iskender stirbt, verändert sich die Stimmung des Films. Statt zu beobachten, deutet Musaoglu vermehrt an. Während Nabats Arbeit vorher in sich sinnvoll war, muss sie jetzt, wo sie niemanden mehr hat, nach einer neuen Tätigkeit suchen und dieser einen Sinn geben. Sie fängt an, in den verlassenen Häusern im Dorf Öllampen in die Fenster zu stellen. Ob sie es tut, um Tiere zu vertreiben, wie Iskender es ihr geraten hat, um eine Totenwache zu halten oder um die Einsamkeit zu bekämpfen, indem sie das Dorf nachts für sich leuchten lässt, bleibt offen.
Der Film zeigt nur, dass etwas passiert, er zeigt nicht, warum. Die Natur, die Nabat vorher als Lebensgrundlage gedient hat, ist jetzt metaphorisch aufgeladen: Wasser, das in ein Blechbecken tropft, erinnert an das Ticken einer Uhr. Früchte, die reifen, sind nicht mehr nur zum Essen da. Der Wind gemahnt an die Toten. Der Wolf, vor dem Nabat sich gefürchtet hat, entpuppt sich als Wölfin mit Jungtieren. Musaoglu zeigt die Tiermutter so, als ob sie von jetzt an über die einsame Witwe wachen würde.
Erschienen im Tages-Anzeiger am 16. Mai 2015