Die andere Filmgeschichte

In «Women Make Film» holt der irische Regisseur Mark Cousins den von Regisseurinnen geschaffenen und weitgehend unbekannten Teil der Filmgeschichte ans Licht. Eine Horizonterweiterung!

Eigentlich sind die Solothurner Filmtage die Werkschau für Schweizer Filme. Aber dieses Jahr ist der Dokumentarfilm «Women Make Film» des irischen Autors und Regisseurs Mark Cousins ein Höhepunkt. Der Film ist ein 14-stündiges fesselndes Wunderwerk, eine Art Roadmovie durch 130 Jahre Filmgeschichte, das einem klarmacht: Wir kennen nur die Hälfte derselben. Diejenige, die geprägt ist von Namen wie Alfred Hitchcock, Orson Welles, Stanley Kubrick, Martin Scorsese, Christopher Nolan.

Er habe geglaubt, er kenne die Klassiker des Kinos, sagte Cousins in einem Interview. «Aber dann habe ich gemerkt, dass es Filmemacherinnen gibt, die genauso grossartig sind, die mithalfen, die Sprache des Kinos zu verändern, die mitdefinierten, was ein Thriller oder ein Kriegsfilm ist.»

Er habe geglaubt, er kenne die Klassiker des Kinos, sagte Cousins in einem Interview. «Aber dann wurde mir klar, dass es Filmemacherinnen gibt, die genauso grossartig sind. Sie halfen mit, die Sprache des Kinos zu verändern, definierten mit, was ein Thriller oder ein Kriegsfilm ist.»

Mit seinem über Jahre recherchierten Werk erinnert Cousins nun an die genialen Regisseurinnen, die es seit den Anfängen des Kinos überall auf der Welt gab, nur sind viele von ihnen in Vergessenheit geraten oder haben es nur zu mässiger Bekanntheit gebracht. Er verzichtet darauf, die Gründe für die Marginalisierung zu nennen. Man kennt diese bereits.

So reicht es, dass Tilda Swinton, eine der Erzählerinnen, das Business am Anfang des Films nüchtern als «boys’ club» betitelt. Cousins will die übersehenen Filmemacherinnen nicht als Opfer oder schützenswerte Spezies darstellen. Was ihn interessiert, ist allein die Frage: Was ist ein guter Film, und wie ist er gemacht worden?

Weniger Action und Muskeln

Er umkreist die Antworten darauf in vierzig Kapiteln zu verschiedensten Themen, ob zum technischen Handwerk oder zur Kunst der Narration. Die Kapitel sind meisterhaft montierte Collagen, bestehend aus jeweils einer Auswahl von Ausschnitten aus den Werken von insgesamt 183 mehr oder weniger bekannten Regisseurinnen.

Cousins schaut analytisch auf diese Szenen, aber nicht nüchtern. Mit dem Blick des Filmfans. Statt zu deuten, lässt er die Bilder sprechen. Man spürt seine Faszination für Ästhetik, seine Bewunderung für kunstvolles Handwerk. Damit erweckt er in einem selbst das von zu viel Netflix schon ganz abgestumpfte Gespür für Filmkunst zu neuem Leben.

In den Kapiteln namens Arbeit, Politik, Sex, Religion, Erinnerung oder Tod wird «Women Make Film» so richtig interessant, weil Cousins da wortwörtlich sichtbar macht, wie Regisseurinnen die Welt sehen, wofür sie sich interessieren, was sie weglassen. Er benennt keine Unterschiede zu den Arbeiten ihrer Berufskollegen, das würde den Blick einengen.

Trotzdem werden diese während des Zuschauens evident: Viel öfter geht es um Protagonistinnen. Es gibt weniger Action, aber nicht weniger Gewalt, sie entlädt sich bloss seltener in Feuerbällen und über Muskelkraft. Die Regisseurinnen haben ihre Filme mit sichtlich kleineren Budgets realisiert. Ausser vielleicht Kathryn Bigelow, die Frau für Actionfilme wie «Strange Days» (1995) oder «The Hurt Locker» (2008).

Wenn man einmal angefangen hat mit «Women Make Film», kann man nicht mehr aufhören. Hier tut sich ein unbekannter Kosmos auf. Man schaut zu, halb beschämt darüber, dass man so viele dieser offenkundig herausragenden Filme nie gesehen hat, halb verärgert, dass einem der Zugang gefehlt hat und immer noch fehlt.

Vierzehn Stunden scheinen lang. Aber Cousins teilt seinen Film in fünf Abschnitte auf, denen man sich bequem über mehrere Tage widmen kann. Dass die Solothurner Filmtage dieses Jahr online stattfinden, kommt einem da entgegen.

Dann und wann stösst man in «Women Make Film» auf eine Schweizer Regisseurin oder auf eine schweizerische Koproduktion, etwa «Home» (2008) und «Sister» (2012) von Ursula Meier oder «Töte mich» (2012) von der Deutschen Emily Atef. Dass es noch mehr vergessene Schweizer Filmemacherinnen gibt, daran erinnern die Solothurner Filmtage, quasi als Ergänzung zu Cousins Werk und zum 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts in der Schweiz, in der Sektion «Histoires du cinéma Suisse».

Unter dem Titel «Film. Pionierinnen 1971–1981» stellen sie sieben hiesige Regisseurinnen vor, die im Jahrzehnt nach der Einführung des Frauenstimmrechts aktiv waren: Lucienne Lanaz, Marlies Graf-Dätwyler, Gertrud Pinkus, Tula Roy, Isa Hesse-Rabinovitch, June Kovach und Carole Roussopoulos. Sie erzählen von Emigration, Behinderung, überholter Sexualmoral, von Rohstoffhandel, Politikerinnen und Transvestiten, von Erziehung, Einsamkeit und Aussenseitern.

Die Filmreihe holt, wie auch «Women Make Film», diese Regisseurinnen aus dem Schatten ihrer Kollegen heraus und gibt ihnen etwas von der Sichtbarkeit zurück, die ihnen verwehrt blieb.

Reue als Antrieb

Mark Cousins beschäftigt sich seit dreissig Jahren in Dokumentarfilmen mit den unterschiedlichsten Aspekten des Kinos. Mit «The Story of Film: An Odyssey» (2011) erzählte er in vierzehn einstündigen Kapiteln die Filmgeschichte anhand von Filmausschnitten nach, vorwiegend mit Beispielen der ­eingangs genannten Klassiker und chronologisch geordnet.

Die Idee für das Werk «Women Make Film», das nicht chronologisch aufgebaut sei, habe er in den 1990er Jahren gehabt, sagte Cousins. Als er eine Dokumentarfilmreihe kuratiert habe, habe er nur ein einziges Werk einer Regisseurin gezeigt und das danach schwer bereut. Seither frage er, wenn er im Ausland sei, immer nach wichtigen Regisseurinnen.

Das Resultat seiner Suche ist eine unbedingt empfehlenswerte Horizonterweiterung, die in einem das dringende Bedürfnis weckt, viele der darin vorgestellten Werke online oder in Videotheken aufzustöbern, um sein traditionell geprägtes Wissen über die Filmgeschichte zu erweitern. 

 

Zuerst Erschienen: 14. Januar 2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: BFI)