Die Evolution der Emma Stone

So furchtlos wie in «Poor Things» spielt Emma Stone jetzt in «Kinds of Kindness», ihrem dritten Film mit Yorgos Lanthimos.

Als Kind litt Emma Stone an Panikattacken. Und noch heute erzählt sie in Interviews von ihren Angstzuständen. Wie passt das zu dieser entfesselten Schauspielerin aus «Poor Things», der grotesken Coming-of-Age-Komödie von Yorgos Lanthimos? Und zu den absonderlichen Figuren, die Stone in dessen nun anlaufendem Drama «Kinds of Kindness» spielt? Besser, als man vielleicht denkt: An Panikattacken und Ängsten würden besonders oft jene Menschen leiden, die gern alles unter Kontrolle hätten, das habe sie in der Therapie gelernt, erzählte Stone einmal im Podcast «Fresh Air». Kontrolle – das ist auch das Thema, das Yorgos Lanthimos beschäftigt, seit er Filme macht. Kontrolle als Resultat von Regeln, die die Menschen sich auferlegen, um als Zivilisation zu funktionieren.

Als der Grieche 2015 auf der Suche war nach den drei Schauspielerinnen für «The Favourite», seine historische schwarze Komödie über die starrsinnige und regierungsunfähige Königin Anne (Olivia Colman), habe er nicht im Sinn gehabt, eine Amerikanerin zu casten. Aber Emma Stone wollte unbedingt, nachdem ihre Agentur ihr das Drehbuch zu lesen gegeben hatte. Sie war begeistert davon und mochte es, wie oft das Wort «cunt» darin vorkam – im amerikanischen Englisch die vulgäre Bezeichnung fürs weibliche Geschlecht, im britischen ein Schimpfwort für alle.

Lanthimos hatte schon für «The Lobster» (2015) an Emma Stone gedacht, aber sie noch nicht kontaktiert. Für «The Favourite» lud er sie ebenfalls nicht zu einem Casting ein, sondern traf sich mit ihr. Die beiden Kontrollfreaks verstanden sich auf Anhieb und teilen offenbar ihren Sinn für Humor. Ein Glücksfall für die Filmgeschichte. Und jetzt, drei Filme später und mit dem vierten in Arbeit, gelten sie als eines dieser genialen Schauspiel-Regie-Paare. Wie früher Robert De Niro und Martin Scorsese.

Manche bezeichnen Emma Stone jetzt als die Muse von Yorgos Lanthimos. Aber wenn schon, dann ist die Beziehung eine symbiotische. Wie sie ihn inspiriert, so hat auch seine Arbeitsweise etwas in ihr freigelegt. Seit sie am Anfang von «The Favourite» aus der Kutsche heraus und mit dem Gesicht voran in den Matsch gestürzt, sich aufgerappelt hat und verdreckt vor die Königin getreten ist, als ob nie etwas gewesen wäre, ist klar: Emma Stones Talent ist viel reicher als das, was in amerikanischen Blödel- oder Liebeskomödien gebraucht wird.

Endlich hatte sie mit Lanthimos jemanden gefunden, der ihr die Bedingungen bietet, um mit kontrolliertem Überzeichnen zu experimentieren. Etwas vom Schwierigsten überhaupt. Weil Stone schon als Kind so exzessiv Theater spielte, beherrscht sie ihr Handwerk wie Mark Knopfler seine Gitarre. Sie kann alles verkörpern, von albern bis todernst. Sie spielt ihre Figuren nicht, sondern beherrscht sie, füllt sie mit einem flirrenden Leben, das jeweils auf den ganzen Film überschwappt.

Roter Teppich in die Sackgasse

Stone wusste schon immer, dass sie Schauspielerin sein wollte. Im Interview mit «Fresh Air» erzählte sie davon, wie sie gelernt habe, die extremen Gefühle, die sie bei Angstattacken empfand, als produktive Kraft zu nutzen.

Als Emma zwölf war – oder Emily, wie sie eigentlich heisst –, erklärte sie ihren Eltern in einer Powerpoint-Präsentation, warum sie ab sofort zu Hause unterrichtet werden müsse, damit sie weiterhin Theater spielen könne. Die Eltern fanden das einleuchtend. Drei Jahre später erläuterte sie ihnen in einer nächsten Präsentation, warum die Familie aus ihrer Heimat Arizona nach Los Angeles ziehen müsse. Sie willigten ein.

2005 bekam Stone als 17-Jährige im Fernsehfilm «The New Partridge Family» ihre erste Rolle. Den Durchbruch brachten ihr, die weder die Highschool offiziell abschloss noch ein College besuchte, Highschool- und Collegekomödien: «Superbad», «The House Bunny» und schliesslich «Easy A». Im Animationsfilm «The Croods» lieh sie ihre rauchige Stimme einem Steinzeitmädchen. 2012 und 2014 akzeptierte sie, was damals noch eine Ehre war für Nachwuchsstars, und liess sich auf Marvel ein, um in «The Amazing Spider-Man» Teil I und II Gwen Stacey zu spielen, die Freundin des Helden. Gut für Stone, dass Gwen stirbt und sie aus diesem «Universe» schnell wieder hinauskam.

Während Stone sich auf «La La Land» vorbereitete, für den sie ihren ersten Oscar gewinnen sollte, las sie das «Favourite»-Drehbuch mit all den «cunts». Zwischen diesen beiden Filmen liegt nicht nur geografisch ein Ozean. «La La Land» ist ein bittersüsses Musical über den Rest von altem Glanz, der Hollywood noch anhaftet. Stone sang und tanzte an der Seite von Ryan Gosling, dessen Charme und Können sie schon in der Liebeskomödie «Crazy. Stupid. Love.» Konkurrenz gemacht hatte. Sie haben beide dieses verschwenderische Talent für Komik und keine Angst davor, sich in Rollen lächerlich zu machen. Sie sind die Tollpatsche mit Sexappeal, die hübschen Klassenclowns von Hollywood.

Mit den Liebes- und Schulkomödien rollte das Filmbusiness Emma Stone damals den roten Teppich in die Sackgasse aus: Sie hätte das neue Hollywood-Darling werden sollen, die neue Julia Roberts, die nächste Katharine Hepburn. Aber es kam anders: Stone fing neben Mainstream-Projekten an, mit Autorenfilmern zusammenzuarbeiten. Zweimal mit Woody Allen, dann mit Alejandro G. Iñárritu für «Birdman». Für ihre Rolle als zynischer Ex-Junkie in diesem Film, der ein Abgesang auf das Filmbusiness und aufs Superhelden-Hollywood ist, erhielt Stone ihre erste von inzwischen vier Oscar-Nominationen.

Während Emma Stone also ihr Repertoire erweiterte und ihr Name immer heller leuchtete, verdunkelte sich der Himmel über der «City of Stars», die Stone und Gosling in «La La Land» noch melancholisch besingen. Streaming legte sich als mächtige Konkurrenz über das ganze Filmbusiness. Darum wirkt «La La Land» – heute erst recht – wie ein Requiem für alles, was Hollywood seither verloren hat. Denn als Folge der ökonomischen Nervosität entstand diese Flut von Franchisefilmen, immer mehr vom Immergleichen. Die alte «Traumfabrik» war nur noch Fabrik.

Es ist nicht nur so, dass Emma Stone und Hollywood sich in entgegengesetzte Richtungen entwickelt haben. Die Karriere der heute 35-Jährigen ist auch ein Reflektor der geistigen Entwicklung des amerikanischen Mainstream-Kinos. In «Easy A» (2010) exerziert Stone als Schülerin anhand eines Selbstversuchs das Phänomen des «slut shaming» durch. Ihre Figur berichtet in einem Videoblog davon, wie sie ihren tadellosen Ruf mit dem selbsterfundenen Gerücht, sie sei eine Schlampe, beinahe ruiniert hätte. In «The Help» (2011) spielte Stone eine Journalistin, die schwarzen Hausangestellten im segregierten Amerika eine Stimme gibt. Klassischer «White savior»-Stoff. In «Aloha» (2015) verkörperte sie eine asiatisch-schwedisch-hawaiianische Frau.

Heute, wo Emma Stone auch als Produzentin arbeitet, stellt sie sich für solche Fehltritte quasi selbst auf die Anklagebank. Besonders in der unerreicht grandiosen, grausam guten Serie «The Curse», in der sie den Möchtegern-Reality-TV-Star Whitney spielt. Diese will zusammen mit ihrem Mann ein Dorf in New Mexico mit nachhaltigen Häusern aufwerten, biedert sich für die Kamera extrem unbeholfen bei der einheimischen Bevölkerung an, besonders bei einer indigenen Künstlerin. Von positivem Rassismus hat Whitney noch nie gehört, und Empathie verwechselt sie mit Bevormundung. Man kann kaum hinschauen. Würde jemand anderes diese Whitney spielen, man würde sich wirklich abwenden. Nur ganz wenige haben ein so ausgeprägtes Talent fürs Komische wie Emma Stone – und beherrschen auch das Tragische.

Ein Tattoo von Paul McCartney

Benny Safdie, der Autor von «The Curse», postete eifrig Drehfotos auf Instagram. Aber nicht für Emma Stone. Sie hält sich fern von Social Media. Dass Stone heute gemeinsam mit ihrem Mann Dave McCary eine Produktionsfirma führt, ist ein einleuchtender Karriereschritt für eine Angstpatientin. Denn so kann sie mitbestimmen, mit wem sie zusammenarbeiten will. Immer wieder sind es alte Bekannte oder Freunde. Einer davon ist Tony McNamara, Drehbuchautor von «The Favourite» und der anstehenden Fortsetzung von «Cruella». Ein anderer ist Jesse Eisenberg, an dessen Seite Stone früh in ihrer Karriere in der Horrorklamotte «Zombieland» spielte und später bei Woody Allen.

Als Co-Stars sich von Allen distanzierten und die Anschuldigungen gegen ihn kommentierten, schwieg Stone. Sie äussert sich nicht zu politischen Themen und auch nur selten über Privates. Man weiss, dass sie ihren Mann bei «Saturday Night Live» kennengelernt hat, wo sie schon fünfmal als Host eingeladen war. Dass das Paar eine Tochter hat, die 2021 zur Welt kam. In der Late-Night-Show von Jimmy Fallon erfuhr die Welt, dass Stone während der Pandemie Armbänder bastelte – «damals hatten wir ja plötzlich alle ein Hobby», scherzte sie. Und Fallon streckte sein Armband in die Kamera, das Stone ihm im signierten Plastiktütchen geschickt hatte.

Bei Stephen Colbert erzählte sie die Geschichte ihres Familientattoos. Sie zeigt dem Publikum ihr Handgelenk. «Sind das Hühnerfüsse?», fragt Colbert. «Rabenfüsse», sagt Stone. Gezeichnet von Paul McCartney. Sie drehte mit ihm das Musikvideo «Who Cares» und bat ihn um diese Zeichnung, weil «Blackbird» von den Beatles das Lieblingslied ihrer Mutter sei. Alle vier Mitglieder der Familie Stone liessen sich das Tattoo stechen, nachdem die Mutter ihre Brustkrebsbehandlung hinter sich gebracht hatte. Bei den anderen sehe die Zeichnung immer noch wunderschön aus, erzählt sie. Ihr Vater frage sich jeweils, ob er das filigrane Werk überhaupt mit einer Uhr bedecken solle. «Nur mein Tätowierer hat geschlampt. Es zerfliesst jeden Tag mehr!» Emma Stone liebt diese Auftritte in Late-Night-Shows. Sie ist schlagfertiger als die Hosts.

Es fällt wirklich schwer, sich diese fröhlich scherzende Frau mit Panikattacken vorzustellen. Wahrscheinlich war der Beruf ihre Rettung, weil sie als Schauspielerin in sicherem Rahmen Gefühle durchleben kann, die sie sonst überwältigen. Kontrollverlust in kontrolliertem Rahmen. In Lanthimos’ Triptychon «Kinds of Kindness» sehen wir Stone unterwürfig, hilflos, verzweifelt, manipulativ, gefährlich. Ihr improvisierter Tanz am Ende von Teil drei, auch im Trailer enthalten, ging bereits viral. Kehrt nach dem Erfolg von «Poor Things» und dank Emma Stones Unerschrockenheit jetzt die Lust auf Experimente und auf Kreativität nach Hollywood zurück? Es wäre ein Glück für alle.

 

 

(Am 29.6.2024 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Chantal Anderson / Trunk Archive)

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