«Die Grenzen des Zeigbaren haben sich verschoben»

Filmfestivals geraten zunehmend unter politischen Druck. Manche üben aus Angst vor Protesten Selbstzensur, andere wehren sich dagegen, Filme aus dem Programm zu streichen. Etwa das jüdische Filmfestival Yesh!

Dass Filmfestivals Orte des Austauschs und Auseinandersetzung seien, ist bald nur noch eine Floskel. Denn sie geraten immer stärker unter Druck. Seit Putins Überfall auf die Ukraine 2022 und mehr noch seit dem Angriff der Hamas auf Israel 2023 gehören Proteste und Boykottaufrufe auf den roten Teppichen dazu. Festivals werden zum Schauplatz von ideologischen Machtkämpfen. Das führt zu Überforderung, schlimmstenfalls zu Selbstzensur. Damit leisten die selbsterklärten Orte der Debatte Beihilfe zur weiteren Vertiefung von gesellschaftlichen Gräben, statt zur Verständigung beizutragen.

Im September strich das Toronto International Film Festival (TIFF) den Dokumentarfilm «Russians at War» aus dem Programm, nachdem der diplomatische Vertreter der Ukraine dies verlangt hatte und es gegen das Festival-Personal Androhungen von Gewalt gegeben haben soll. Der Dokumentarfilm von Anastasia Trofimowa steht im Verdacht, russische Propaganda zu verbreiten. Wenig später versprach das Zurich Film Festival, «Russians at War» zu zeigen. «Filme sollen zu Diskussionen anregen», erklärte der Direktor Christian Jungen an der Pressekonferenz.

Darauf folgte auf X die Kritik des ukrainischen Aussenministeriums und ein Shitstorm auf Social Media. Auf Instagram wurden Posts des ZFF mit zahllosen Kommentaren versehen, die das Festival beschuldigen, russische Propaganda zu verbreiten. Statt, wie im Voraus angedeutet, ein Podium zu «Russians at War» zu veranstalten, nahm die Leitung den Film aus dem Programm und gab, wie schon das TIFF, Sicherheitsbedenken als Grund an.

«Ein Film über russische Soldaten im gegenwärtigen Krieg ist natürlich eine Provokation, das weiss auch jeder Festivalmacher und nimmt die entsprechenden Reaktionen in Kauf», sagt Bernd Buder vom Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg (JFBB). «Man muss sich aber überlegen, ob ein Film es wert ist, der offensichtlich Gefühle verletzt.» Das JFBB ging im Juni 2024 ohne Zwischenfälle über die Bühne, obwohl seit dem 7.Oktober die Situation nicht mehr dieselbe ist. Festivals zeigen kaum noch israelische Filme. Und auch andere nicht – aus Angst vor Protesten, Störaktionen oder Gewalt. «Die Grenzen des Zeigbaren verschieben sich», sagt Sascha Bleuler, Leiterin des Human Rights Film Festival Zurich. Sie und ihr Team entschieden sich nach langen Diskussionen dagegen, den ukrainischen, Oscar-prämierten Dokumentarfilm «20 Days in Mariupol» zu zeigen, weil der Film so viele sterbende Kinder und Leichen zeigt. «Wir fanden, er hinterlasse einen in einem Schockzustand und mit einem Gefühl der Hilflosigkeit», sagt Bleuler.

Am Filmfestival Yesh!, das im November «Neues aus der jüdischen Filmwelt» auf Zürichs Leinwände bringt, wird das Publikum manche Filme aus dem Grund nicht zu sehen bekommen, weil diese gar nicht erst eingereicht wurden. «Eigentlich ging es uns immer darum, verschiedenste Menschen zusammenzubringen, auch jüdische und palästinensische», sagt der Festivalleiter Michel Rappaport. «Aber der 7.Oktober hat leider vieles zerstört.» Aber Filme aus dem Programm zu nehmen, dazu seien sie nicht bereit, sagt er.

Es ist, als ob heute eine Mauer stünde, wo es früher gegenseitige Neugierde gab. Auf einmal spielen Herkunft und Glaube von Filmschaffenden eine grössere Rolle als die Qualität ihrer Arbeit. Den palästinensischen Dokumentarfilm «Bye bye Tiberias» etwa, der schon am Human Rights Film Festival lief – begleitet von Zwischenrufen «It’s a genocide!» –, wollte der Verleih dem Yesh! nicht geben. Palästinensische Filme fehlen dieses Jahr im Programm. Mit einer Ausnahme: «No Other Land» von den Regisseuren Yuval Abraham, einem Israeli, und Basel Adra, einem Palästinenser. Ihr Film gewann den Dokumentarfilmwettbewerb der Berlinale, die diesen Februar vor allem zum Schauplatz für die gesellschaftliche Verunsicherung rund um den Nahostkonflikt wurde, auch wegen «No Other Land».

An Filmfestivals wurde immer wieder protestiert, denn unpolitisch waren sie noch nie. Jenes in Venedig wurde von den Faschisten gegründet. Die Berlinale entstand 1951 auf Initiative des amerikanischen Offiziers Oscar Martay, der in Berlin stationiert war. Jüngst wurde publik, dass der erste Direktor des Festivals, Alfred Bauer, eine Nazivergangenheit hat. Weil Orson Welles sich antideutsch äusserte, lud die Berlinale 1952 seinen «Othello» aus.

Kunst trägt zur Verständigung bei? Diese Annahme wird wieder einem Realitätscheck unterzogen. Die letzten Jahre haben daran erinnert, dass es Kunst ohne Auseinandersetzung nicht gibt und sie von Politik nicht zu trennen ist – ob es die sogenannten Woken sind, die eine Neudeutung von traditionellen Gewissheiten verlangen, oder Aktivisten, die Kulturinstitutionen mit Boykottaufrufen in Erklärungsnot bringen. Die Frage ist, wie diese sich verhalten, wenn sie jetzt mitten hineingezogen werden in die aufgewühlte und stark verunsicherte Gesellschaft. Vermeiden sie Debatten aus Angst vor vermeintlich zu heiklen Inhalten, verraten Institutionen und Kulturanlässe als Gastgeber letztlich die Kunstschaffenden.

Erschienen am 13.10.2024 in der «NZZ am Sonntag» Bild: Ciné-Doc