Die letzten leichten Tage
Die grossartige Juliann Moore spielt in «Still Alice» eine an Alzheimer erkrankte Professorin.
Das erste Wort, das ihr nicht einfallen will, ist ‚wordhoard’: ‚Wortschatz’. Das letzte, das wir sie sagen hören, ist ‚love’. Alice Howland (Julianne Moore) ist Professorin für Linguistik an der Columbia-Universität in New York. Die Mutter von drei Kindern ist gerade 50 geworden, als es anfängt: Mal entfällt ihr ein Wort, dann ein Name oder sie vergisst einen Termin. Als sie beim Joggen die Orientierung verliert, geht sie zum Arzt. Sie fürchtet, sie habe einen Hirntumor. Es ist Alzheimer. Ihr Mann John (Alec Baldwin), selber Neurologe, weiss, was das bedeutet, er versucht der Diagnose mit Fachbegriffen statt Verzweiflung zu begegnen. Alice reagiert gefasst. Mit der Sachlichkeit einer Wissenschaftlerin bereitet sie sich auf das Vergessen vor, das sie zuerst in die Orientierungslosigkeit, dann in die Isolation führen wird. Um sich zu kontrollieren, tippt sie Fragen in ihr iPhone, die sie von jetzt an jeden Tag beantworten muss: „Wie heisst du?“ – „Was ist heute für ein Tag?“ – „Wann wurdest du geboren?“ Am Ende steht: „Wenn du diese Fragen nicht mehr beantworten kannst, öffne den Ordner ‚Schmetterling’ auf deinem Laptop.“ Dort hat Alice eine Videobotschaft deponiert für ihr künftiges Selbst, vor dem sie Angst hat und von dem sie nicht weiss, wann es da sein wird. „Liebe Alice“, sagt sie zu dieser Unbekannten, „ich bin die, die du warst.“ Dann weist sie ihr den Weg zu der Schublade, in der sie ein Döschen mit Schlaftabletten versteckt hat.
Still Alice beruht auf dem gleichnamigen Roman von Lisa Genova, adaptiert haben ihn Walsh Westmoreland und Richard Glatzer. Das Filmer- und Produzentenpaar hat Kurz- und Independentfilme wie The Last of Robin Hood (2013) oder Quinceañera (2006) gemacht, bekannter dürfte aber die Fernsehshow America’s Next Top Model sein, an der sie mitgearbeitet haben. Es ist möglich, dass Still Alice von einer derart intimen und ungekünstelten Atmosphäre geprägt ist, weil Glatzer während der Dreharbeiten selber eine gesundheitliche Krise durchlebte: Bei ihm wurde die Nervenkrankheit ALS diagnostiziert, er konnte zeitweise nur mittels einer Schriftdolmetscher-App auf seinem iPad mit der Crew kommunizieren.
Es ist unheimlich, Julianne Moore dabei zuzusehen, wie sie Alice die Stadien der schnell fortschreitenden Krankheit durchleben lässt. Wie ihr schönes, frisches Gesicht mehr und mehr erschlafft. Wie sie diesen dumpfen, fragenden, nach innen gerichteten Blick bekommt, den Menschen haben, deren Gehirn beschädigt ist. Der Zuschauer kann sich diesem Prozess nicht entziehen, Moore ist in praktisch jeder Einstellung zu sehen. Close-ups zeigen jede ihrer Regungen, ihr Schwanken zwischen Angst und Mut, Verletzlichkeit und Kraft. Oft verfolgt die Kamera Alice, man sieht sie von hinten und angeschnitten, während die Umgebung in Unschärfe versinkt. Mal sieht man ihr diffuses Spiegelbild auf einem dunklen Bildschirm, mal zeigt die Kamera sie so verschwommen, so dass Augen und Mund nur dunkle Flecken sind, bis ihr Gesicht endlich Konturen annimmt. Solche Bilder übersetzen Alices Gefühle.
Julianne Moores Leistung ist herausragend, ihr Spiel macht fast Angst. Sie ist noch besser als in anderen schwierigen Rollen, für die man sie sonst bewundert. Bekannt wurde sie mit Short Cuts (1996) und kaum hatte sie sich mit Auftritten in Blockbustern wie Spielbergs Lost World: Jurassic Parc (1997) in Hollywood etabliert, folgten die ersten Ehrungen: Für ihre Rolle als Pornodarstellerin und Mutter in Boogie Nights (1997) wurde sie für den Oscar nominiert, weitere Nominierungen folgten für The End of the Affair (1999), Far From Heaven (2002) und für The Hours (2002). Zuletzt rettete Moore die enttäuschende Showbiz-Satire Maps to the Stars (2014) mit ihrem Auftritt als alternde irre Hollywooddiva, die sich vom Geist ihrer Mutter verfolgt glaubt. Für ihre Leistung in Still Alice wurde Julianne Moore jetzt mit dem Golden Globe ausgezeichnet und zum fünften Mal für den Oscar nominiert.
Dass Glatzer und Westmoreland für Still Alice voll auf Moores ausserordentliches Talent setzen, wird dem Film allerdings beinahe zum Verhängnis: Die meisten der anderen Figuren bleiben unterentwickelt. Obwohl die Bedeutung der Familie für Alice am Anfang betont wird, erfährt man wenig darüber, wie diese mit der fremder werdenden Frau und Mutter umgehen. Man sieht ihrem Mann John dabei zu, wie er seine Karriere mit der abnehmenden Selbständigkeit Alices zu vereinbaren versucht. Aber wie es ihm geht, weiss man nicht. Man sieht ihren Sohn (Hunter Parish) ab und zu ihre Hand halten. Man nimmt an, dass ihre älteste Tochter (Kate Bosworth) überfordert ist und alles verdrängt.
Aber da ist noch Lydia (Kristen Stewart), die Jüngste. Sie ist die einzige Figur neben Alice, die eine Entwicklung durchlebt. Zuerst görenhaft und weit weg von New York mit ihrer Karriere als Schauspielerin beschäftigt, rückt Lydia ihrer Mutter umso näher, je fremder diese ihr wird. Sie kümmert sich um sie, liest ihr, als Alice kaum noch sprechen kann, aus ihren Theaterstücken vor. Dieser Beziehung zwischen Lydia und Alice verdankt der Film einen Grossteil seiner Wucht.
Still Alice reiht sich ein in eine Folge von Filmen, die sich mit Krankheit und Tod beschäftigen wie The Theory of Everything, Wild oder Usfahrt Oerlike. Aber wenige gehen einem so nah wie Still Alice. Es ist ein unprätentiöses, eindringliches Stück über das langsame Abschiednehmen: Das der Kranken von ihrem Selbst, und das der Zurückbleibenden von der Frau und Mutter, die sie geliebt haben und weiter lieben wollen, aber noch nicht wissen, wie.
Erschienen in FRAME, dem Filmmagazin der NZZ am Sonntag, Februar 2015