«Die Liebe zum Dunklen ist unsere Natur»

Als Kommissarin Lund wurde Sofie Gråbøl berühmt. Jetzt spielt sie im Drama «Rose» eine Schizophrene. Ein Gespräch mit der Dänin über Dunkelheit und Licht.

In ihrem neuen Film, dem Drama «Rose», spielt Sofie Gråbøl die schizophrene Inger, die auf einer Carfahrt nach Paris ihre Mitreisenden überfordert: Wie soll man umgehen mit so einem Menschen? Im Zoom-Gespräch erzählt Gråbøl von ihrem Respekt vor dieser Rolle, von ihrer Arbeit mit Lars von Trier und von Kommissarin Lund, die sie weltberühmt machte.

Sie spielten am Anfang Ihrer Karriere gefühlvolle, lustige Rollen. Dann die emotional zurückgezogene Sarah Lund in «The Killing». Und jetzt vereint Inger in «Rose» dieses ganze Spektrum in sich?

Wenn eine Figur keine Gegensätze in sich trägt, dann kann man sich nicht mit ihr identifizieren. Darum suche ich in einer lustigen Rolle nach dem Dunklen und in einer dunklen nach dem Leichten. Kommissarin Lund ist die klassische Heldin. Wenn ich sie aber auf heldenhafte Weise spiele, wird die Figur eindimensional. Dann steht das Publikum vor ihr wie vor einem Gebäude aus Gold und Marmor, dem die Tür fehlt. Das macht zwar Eindruck, aber da kommst du nicht rein. Wie ich mich, so muss auch das Publikum sich mit meiner Figur identifizieren können. Darum ist es absolut notwendig, deren gegensätzliche Seiten auszuloten.

Besonders wenn man mit Lars von Trier arbeitet, wie Sie es in «Mifune» oder «The House that Jack Built» taten?

Niemand, den ich kenne, ist so düster im Erzählen wie er, aber zugleich hat er immer diesen ironischen, humorvollen Blick auf das Leben. Lars von Trier hat die Grenzen des Möglichen und die Gewohnheiten des Geschichtenerzählens in die Luft gejagt. Seine Filme erinnern daran, wie sehr wir als Gesellschaft jemanden brauchen, der unser Denken auf die Probe stellt. Wir sind als Spezies abhängig von Menschen, die die Dinge anders wahrnehmen als die Mehrheit, sonst würden wir uns nicht weiterentwickeln.

Inger sagt immer die Wahrheit. Aber wenn uns jemand fragt, wie es geht, sagen wir «gut», auch wenn es nicht stimmt. Warum machen wir das?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Kann ich eine Weile nachdenken?

Natürlich.

Danke. Ich möchte mit etwas sehr Persönlichem antworten. Ich kann das nachvollziehen, weil ich vor ein paar Jahren an Brustkrebs litt. Die Tortur mit Operation, Chemo, Rehabilitation, die ich durchlaufen musste, hat mich in eine sehr grosse Dunkelheit hinabgezogen, auch mental. Ich glaube, wir nennen das Depression. Es war eine Dunkelheit, die ich zuvor nicht gekannt hatte. Während ich noch mittendrin steckte, war mir das nicht bewusst, aber danach sah ich darin eine Reaktion auf die Krankheit mit Scham.

Mit Scham?

Ja, ich habe mich dafür geschämt, nicht zu funktionieren. Ich zog mich zurück, war nicht in der Lage, zu meiner Herde zu sagen: Ich fühle mich schwach. Es war, als ob ich instinktiv Angst davor gehabt hätte, ausgeschlossen zu werden, sobald ich Zeichen der Schwäche zeige. Ich habe mich wie ein verletztes Tier im Gebüsch versteckt. Ich war nicht geübt darin, mit so negativen Gefühlen umzugehen.

Sind nicht die meisten ungeübt darin?

Manchen mag das besser gelingen. Aber für mich war diese Scham ein Element davon, dass ich nicht über allem zu stehen vermochte.

Das ist traurig.

Wenn ich etwas aus diesem persönlichen Tief gelernt habe, dann, dass meine Empathie grösser geworden ist. Es gibt ausser einer Krankheit noch viele andere Gründe, warum ein Mensch zusammenbricht und Empathie braucht. Sie ist unsere grösste Stärke. Das klingt jetzt simpel, aber ich hatte damals auch so viel aus der Kraft des Geschichtenerzählens gezogen, überhaupt aus Film, Literatur und Musik. Kunst ist so ein starkes Werkzeug für uns, um Dinge zu verstehen und Verständnis zu entwickeln für Menschen, die unter anderen Bedingungen leben als wir selbst.

So wie Sie das nun als Inger in «Rose» machen?

Ich spürte bei der Vorbereitung eine grosse Verantwortung dieser Figur gegenüber, anders als sonst.

Weil die Person real ist?

Ja, zum Teil. Es ist das erste Mal, dass ich eine reale Person spielte. Der Regisseur Niels Arden Oplev erzählt hier, wenn auch fiktionalisiert, die Geschichte seiner Schwester. Deshalb fühlte ich mich verantwortlich, sie echt wirken zu lassen, respektvoll und wahrhaftig mit ihr umzugehen. Auch weil Menschen mit psychischen Krankheiten in Film und Fernsehen fast immer ziemlich grauenhaft inszeniert werden. Man braucht sie als Figuren, vor denen man sich fürchten soll. Oft steht die Diagnose im Vordergrund, nicht der Mensch. Aber wenn ich jemanden mit Diabetes spiele, dann interessiert mich nicht Diabetes, sondern wer es ist, der daran leidet.

Wie spielt man eine psychisch kranke Person, ohne sie unglaubwürdig wirken zu lassen?

Niels’ Schwester hat eine ganz eigene Art zu sprechen, zu gehen, zu schauen, überhaupt in ihrem Körper zu sein. Ich hatte grösste Mühe, in diese Rolle zu finden, weil ich dachte, wenn ich ihre Art direkt übersetze, dann wirkt es übertrieben.

Warum?

Die Realität wirkt oft extremer als Fiktion. Ich musste mich dazu bringen, das loszulassen, was ich glaubte, spielen zu müssen. Weil wir so unsicher waren, ob wir die Balance hinbekommen, haben wir jeweils eine Version gedreht, bei der ich mich zurücknehme, und eine, bei der ich mich gehen lasse. Am Ende verwendete Niels sämtliche Takes, von denen wir dachten, sie seien zu übertrieben.

Hat seine Schwester den Film gesehen?

Ja. Sie war sehr glücklich darüber und sagte, sie hoffe, dass er Leuten wie ihr und deren Angehörigen etwas geben könne.

Wie Sarah Lund der Serienwelt sehr viel gegeben hat.

Ich bin immer noch erstaunt darüber, dass «The Killing» ausserhalb von Dänemark so erfolgreich war.

Warum ausserhalb?

Zu Hause war es erwartbar, weil es eine brillante Geschichte ist. Und Krimis ziehen immer. «The Killing» ist eigentlich ein traditioneller Thriller, aber sehr mutig in Bezug auf Geschwindigkeit. Man hatte zwanzig Episoden, also zwanzig Stunden Zeit, um einen Mord aufzuklären. Das gab es bisher nicht. Als die Autoren die Story vorstellten, dachte ich, das wird doch langweilig.

Was, wieso denn?

Wir waren Krimis gewohnt, in denen pro Folge ein Fall gelöst wird, es Verfolgungsjagden und Schiessereien gibt. Aber das kam hier alles nicht vor. Stattdessen hatte man sehr viel Zeit, um die Psyche von Figuren und die Trauer der Familie des ermordeten Mädchens auszuloten. So tief einzutauchen, war damals wagemutig. Es gefällt mir, was wir mit dieser Hauptfigur angestellt haben. Sie zu erschaffen, hiess auch, dass wir uns mit dieser archetypischen Ermittlerfigur befassten.

«The Killing» gilt als Serie, die den Stil des Nordic Noir mitdefiniert hat. Was meinen Sie, warum wir das Dunkle in der Fiktion so lieben?

Das geht wohl zurück auf den Anfang des Erzählens. Mythen und biblische Geschichten sind voll davon. Das sind Versuche der Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen unseres Seins und unserer Psyche. Übers Erzählen bilden wir ein Gefühl für die kollektive Erfahrung des menschlichen Lebens. Ich nenne die Liebe zum Dunklen oder Unergründlichen unsere Natur. Und das teilen zu wollen, ist ein Grundbedürfnis. Wir haben zwar schreckliche Angst davor, das Gesicht zu verlieren, aber wenn das jemandem passiert, weil er oder sie sich öffnet, dann reagiert man doch mit Empathie.

Sie sagten einmal, Lars von Trier sei sehr offen und direkt und darin sehr dänisch. Aber nicht dänisch in seiner Kunst. Wieso?

Er ist angstfrei. Das ist keine dänische Eigenschaft. Wir sind ein kleines Land und müssen uns ständig irgendwie verhalten zu grösseren und dominanteren Ländern um uns herum. Wohl darum suchen wir immer nach der pragmatischen Lösung. Weil wir eine sehr konsensorientierte Nation sind, neigen wir wohl auch dazu, einander zurückzuhalten. Darum gibt es nicht viele Lars von Triers.

Dabei bewundern wir Ihr Land für sein Kino. Dänemark gilt hier als Vorbild.

Das ist schmeichelhaft. Das Gute ist doch aber, dass die Welt immer vernetzter wird und wir einander international viel stärker inspirieren, als es früher möglich war. Es gibt zwar die Idee einer nationalen Identität oder einer nationalen Kultur, aber mich dünkt, die junge Generation sei nicht mehr so stark an Grenzen gebunden, ob in Bezug auf Nationalität, Klasse oder Geschlecht. Diese Generation lässt sich nicht an eine bestimmte Definition von Ich, Kunst oder Geschlecht binden, sondern lässt sich von allerlei inspirieren. Die sagen nicht: Das bin ich, und ich bin anders als die Person, die dort drüben steht.

Doch, genau das tun viele. Es gibt diesen Zwang zu Labels. Das ist doch ein eigenartiger Widerspruch zum Verlangen nach Freiheit.

Das stimmt, aber trotzdem ist ein profunder Wandel im Gang, der mir vorkommt wie eine Revolution. Ich sehe es an mir selbst, wie sehr meine eigene Wahrnehmung sich erweitert hat. Ich spüre, wie automatisch ich manchmal noch abwehrend reagiere, aber da läuft eine Auseinandersetzung darüber, was für endlose Möglichkeiten des Menschseins es gibt. Jemand muss sich radikal in eine neue Richtung bewegen, um die Balance zu stören, sonst geschieht nichts.

In der Serienwelt war Kommissarin Lund so eine Figur.

Es gab schon andere vor ihr. Aber im Ausland sahen sie damals viele als feministische Ikone. Ich weiss noch, wie ich das ablehnte.

Wieso?

Ich fand immer, es gehe nicht um ihr Geschlecht, sondern um ihre Fähigkeiten. Und ich wollte keine Feministin sein. Unsere Generation mochte dieses Wort überhaupt nicht, weil wir nicht Frauen in einer Männerwelt sein wollten, sondern lieber wie einer der Typen.

Und heute?

Jetzt muss ich zugeben, dass Sarah Lund einen starken Eindruck hinterlassen hat. Ich bin schon stolz darauf, eine Figur gespielt zu haben, die die Sicht darauf verändert hat, was eine Detektivin, eine Heldin sein kann. Es war nicht einfach die Geschichte einer Frau in einer Männerwelt.

 

 

Sofie Gråbøl

Die Tochter (* 1968) eines Architektenpaars wuchs mit ihrer alleinerziehenden Mutter, einer Maoistin, in einer Kopenhagener Kommune auf. Gråbøl studierte Theologie, als sie in einem Film über Gauguin ihre erste Rolle spielte und dem Beruf treu blieb. Ohne eine Schauspielschule besucht zu haben, wurde sie rasch zu einer bekannten Darstellerin in Dänemark, arbeitete mit Lars von Trier oder der nicht minder extremen Anna Odell zusammen. Die Serie «The Killing» machte Gråbøl international berühmt und die Wollpullis ihrer Kommissarin Lund zur Ikone.

 

(Am 28. 9. 2023 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. Bild: Nordisk Film Production)

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