Die Serientäterin

Seit ihrem Erstling «Blue My Mind» dreht Lisa Brühlmann im Ausland eine Serie nach der anderen. Warum in der Schweiz bleiben, wenn draussen die Karriere wartet? Ihrem Beispiel werden andere folgen.

Sie ist jenseits der Landesgrenzen längst in der Realität angekommen, die man in der Schweiz immer noch für die Zukunft hält: Lisa Brühlmann dreht Serien in Serie. Seit 2019 hat die 40-jährige Zürcher Regisseurin für die Sender HBO, Hulu, BBC, Showtime und Apple+ gearbeitet. Neulich meldete die Branchenzeitschrift «Variety», Brühlmann werde Regie führen in der HBO-Serie «Tango!», zusammen mit José Padilha, Regisseur bei der Serie «Narcos». «Tango!» handelt von den Dreharbeiten zu «Ultimo tango a Parigi» (1972) mit Marlon Brando und Maria Schneider, dem bis heute umstrittenen Drama von Bernardo Bertolucci.

Brühlmann, die das Schweizer Publikum wohl eher noch als Schauspielerin denn als Regisseurin kennt, etwa aus der SRF-Soap-Opera «Tag und Nacht», ist in New York per Skype erreichbar. Sie ist nur für ein paar Tage da, «um ein paar Locations anzuschauen und das Team kennenzulernen», sagt sie. Es geht aber nicht etwa um «Tango!», sondern schon wieder um ein anderes Projekt: «Three Women», eine Serie für Showtime. Sie basiert auf dem Buch von Lisa Taddeo und erzählt von drei Frauen unterschiedlicher Herkunft, die alle auf der Suche nach ihrer Sexualität sind. Eine von ihnen wird Shailene Woodley spielen, bekannt etwa aus «Big Little Lies». «Dass sie dabei ist, war auch ein Grund für mich, da mitzumachen. Woodley hatte mich auf dem Radar, und ich will sie unbedingt kennenlernen», sagt Brühlmann vorfreudig.

Sie ist nicht Hauptregisseurin in «Three Women», sondern wird nur eine Episode drehen. Was nicht so einfach sei: «Man kommt aufs Set und setzt filmisch um, was jemand anderes geschrieben hat. Du kommst als Neuling an und musst 40 Leute führen, die du noch gar nicht kennst. Eigentlich ein krasser Job», findet Brühlmann. Aber sie beherrscht ihn, denn es läuft blendend für sie. Sie könnte sogar noch mehr machen, lehnt aber immer wieder Angebote ab. Der Familie zuliebe.

Als sie an der BBC-Serie «The Girl Before» gearbeitet hat, die im Frühling anlaufen wird und bei der sie die Hauptregie innehatte, ist sie mit der ganzen Familie für ein halbes Jahr nach Bristol gezogen. Brühlmann hat zwei kleine Kinder mit dem Schweizer Regisseur Dominik Locher. In seinem letzten Spielfilm «Goliath» spielte sie eine kleine Nebenrolle. Und er wiederum eine in ihrem Erstling «Blue My Mind», mit dem sie 2016 ihr Filmstudium an der Zürcher Hochschule der Künste abschloss. Locher spielte den Lehrer von Mia (Luna Wedler), die sich langsam in eine Meerjungfrau verwandelt. Brühlmann zeigt die Veränderungen vom Mädchen zur Frau als Märchen mit Zügen von Mystery und Horror.

Das Unheimliche und Sinnliche sind Konstanten in ihrem Werk. «Dabei habe ich ‹Blue My Mind› gar nicht als so unheimlich empfunden beim Schreiben», sagt sie. «Ich war überrascht, dass der Film auf einmal an all diesen Genrefestivals von Horrorfans gefeiert wurde», erzählt sie, die selbst keine Horrorfilme erträgt. Die meisten Premieren für «Blue My Mind» hatte Brühlmann damals verpasst – «ich musste meinen neugeborenen Sohn stillen!» –, aber mit diesem Film fing alles an. Zuerst gab es drei Quarze am Schweizer Filmpreis, die wahre Auszeichnung kam dann mit der Anfrage der Produzentinnen der britischen Serie «Killing Eve», kreiert von Phoebe Waller-Bridge. Brühlmann sollte an Staffel 2 mitarbeiten. «Ich fand, ich sage einfach mal Ja!», erinnert sie sich in ihrem Kämmerchen in New York, wo hinter ihr eine Garderobe überquillt. «Es hat mir zuerst irrsinnig Angst gemacht. Aber ich dachte auch, wenn es mich so einschüchtert, dann muss ich es erst recht ausprobieren.»


«Killing Eve» und «Castle Rock»

Danach gefragt, warum wohl gerade sie für «Killing Eve» ausgewählt worden sei, senkt sie die Stimme. Sie klingt jetzt betont sachlich: «Ich glaube, es sind meine genaue Beobachtungsgabe und die Sinnlichkeit, die ich mitbringe. Ich glaube, die Schauspielerinnen arbeiten so gern mit mir wie ich mit ihnen. Wenn ich etwas gern mache, bin ich mit Leidenschaft dabei, das spüren die wohl.»

Brühlmann ist immer noch ganz schweizerisch bescheiden, auch wenn sie so viel in den USA und in England arbeitet und ihre Kolleginnen und Kollegen für deren selbstverständlichen Stolz auf ihre Arbeit bewundert. Dort seien sogar Kabelträger stolz, beim Film zu arbeiten. «Diesen Stolz gibt es in der Schweiz nicht. Da muss ich erklären, wie ich von meiner Arbeit leben kann.» Wenn Hollywoodstars von «Glück» und «zur rechten Zeit am rechten Ort» zu reden anfangen, glaubt man ihnen das selten. Brühlmann sagt dasselbe, aber bei ihr klingt es nicht nach eingeübter Bescheidenheit, sondern wirklich noch so, als ob sie sich am liebsten entschuldigen wollte für ihren Erfolg.

Und statt in Betracht zu ziehen, dass es an ihrem Talent liegen könnte, rühmt sie die britischen Produzentinnen dafür, dass sie damals «den Mut und das Selbstbewusstsein hatten zu sagen: Wir finden, das könnte passen.» Nach «Killing Eve» drehte sie 2019 eine Folge von «Castle Rock», der Serie, die auf Geschichten von Stephen King basiert, danach zwei Folgen von «Servant», produziert von Night M. Shyamalan. Das sieht von aussen betrachtet alles sehr einfach aus. Aber auch Brühlmann muss Auftraggeber von ihrer Idee überzeugen. Gleichzeitig will sie entscheiden können, ob sie Lebenszeit in ein Projekt investieren soll.

In der Schweiz, so vermutet Brühlmann, hätte man ihr damals nach einem Erstling niemals die Regie für eine Serie anvertraut. «Die Produzenten kamen erst dann, als es im Ausland gut lief.» Es gab sogar das Gerücht, sie sei vorgesehen gewesen für die zweite Staffel einer Schweizer Serie, aber in Co-Regie. «Ich war für ‹Killing Eve› für einen Emmy nominiert, und zu Hause traut man mir die alleinige Regie einer zweiten Staffel nicht zu?», fragt sie mit einer Mischung aus Verletzung und Wut in der Stimme. Selbst wenn es nur ein Gerücht gewesen sein sollte, findet sie trotzdem, dass man in der Schweiz dem Nachwuchs mehr zutrauen muss. «Gerade wir Frauen kriegen zwar Geld für unsere Erstlinge, aber die Jobs mit den grossen Budgets gehen nach wie vor an Männer. Ich hatte bis jetzt noch kein Angebot für einen ‹grossen› Film in der Schweiz und weiss auch, dass einige meiner etablierten Kolleginnen vergeblich darauf warten.»

Brühlmann wohnt zwar immer noch in Zürich, aber warum sollte sie sich als Regisseurin auf ihre Heimat beschränken, wenn sie im Ausland mit internationalen Teams drehen, kostbare praktische Erfahrungen machen und Geld verdienen kann? Eine Serie für einen TV-Sender wie HBO zu drehen, bedeutet, ein Einkommen zu haben, um sorglos durchs Jahr zu kommen. «Ich bin vielleicht die Erste, aber ich glaube, es werden noch ganz viele nachkommen.»

Sie dürfte recht bekommen: Das Bedürfnis nach begabten Regisseurinnen und Regisseuren ist auf dem schnell wachsenden internationalen Streamingmarkt so gross wie noch nie. Mehr Schweizer Talente werden abwandern, statt sich zu Hause mit Werbefilmen oder Zweitjobs über Wasser zu halten und auf die Finanzierung ihres nächsten Projekts zu hoffen.

Die Schweiz ist noch nicht weit genug

Manchmal vermisse sie die Schauspielerei, sagt Brühlmann. «Ich glaube, ich möchte mal ausprobieren, wie es ist, etwas zu spielen, das ich selbst geschrieben habe. Das ist ein Wagnis, aber vielleicht mache ich es trotzdem», sagt sie. Auf jeden Fall in ihrer Muttersprache und in einem Arthouse-Film, den sie in der Schweiz drehen würde.

Denn so attraktiv England oder Amerika für Serien sind, so schwierig ist es dort mit Arthouse-Filmen: «In England dauert es sehr lange, bis du als Nachwuchsautorin deinen Film drehen kannst. In der Schweiz sind wir da in einer luxuriösen Position, was die Förderung angeht. Du kannst relativ schnell einen Film realisieren, wenn auch mit eher kleinem Budget. Das ist anders im Ausland: Da gibt es wirklich eine Filmindustrie.»

Serien allerdings wird Brühlmann weiterhin in anderen Ländern drehen: «Dort kann ich den Stoff mitentwickeln, mir wird weniger reingeredet, ich bin besser bezahlt und bekomme mehr Respekt.» Die Schweiz ist dafür noch nicht weit genug.

 

(Zuerst erschienen am 18. Dezember 2021 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Franco P. Tettamanti)

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