Die Staatsfeinde
Dank Bitcoin-Boom und No-Billag-Debatte haben die neuen Libertären Aufwind. Sie beklagen die staatliche Entmündigung der Bürger. Was treibt sie an?
Warum das libertäre Projekt Bitcoin scheitern musste», liest man in Zeitungen. Oder «Die Irrtümer der libertären No-Billag-Befürworter» oder «Is 2018 the Year oft he Libertarian Party?» – Auf einmal redet die halbe Welt von Libertären. Aber wer sind die überhaupt, und was wollen sie?
Libertäre sehen den Staat als Instrument des Zwangs und der Kontrolle. Er behindere das Spiel des freien Marktes und verleite seine Bürgerinnen und Bürger zur Verantwortungslosigkeit, glauben sie. Vertreter extremer Strömungen innerhalb des Libertarismus wollen den Staat sogar ganz abschaffen, weil Individuen nur so absolut frei sein könnten. Diese Ideologie geht zurück auf Ökonomen wie Ludwig von Mises (1881–1973) und Friedrich von Hayek (1899–1992), die im frühen 20. Jahrhundert in Wien den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft forderten. Mises war der Ansicht, dass wirtschaftliche Krisen nicht dem Markt, sondern dem Eingreifen des Staates zuzuschreiben seien. Hayek war der Überzeugung, dass Monopole nicht durch den Markt, sondern durch Eingriffe des Staates entstehen würden.
Verfechter der freien Marktwirtschaft gründeten in den USA bereits 1971 eine libertäre Partei, und zwar in Abgrenzung zu den «liberals», die bei uns den Sozialdemokraten entsprechen würden. Der Republikaner Ron Paul wird von Libertären als Vorbild bewundert, weil er für individualistische Freiheit eintritt und verlangt, dass jeder selbständig für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit vorsorgt, und darum jede staatliche Verantwortung für Sozialversicherungen ablehnt. Mittlerweile sind die «Libertarians» neben Demokraten und Republikanern zur drittgrössten Kraft im Land angewachsen. Sie widersetzt sich der Zuordnung zum klassischen politischen Rechts-Links-Schema.
Die FDP ist zu wenig radikal
Seit 2014 gibt es auch in der Schweiz eine libertäre Partei, die Unabhängigkeitspartei Up!. Sie wurde gegründet von Brenda Mäder, 31, und Silvan Amberg, 34, dem ehemaligen Präsidenten der schwullesbischen Fachgruppe der FDP. Beide sind Alumni der Hochschule St. Gallen. Der Dritte im Bunde und heutige Präsident von Up! ist Simon Scherrer, 23, Informatikstudent an der ETH Zürich. Den ehemaligen Ostschweizer Jungfreisinnigen war die Politik der FDP zu wenig radikal, besonders der Widerstand gegen den stetig wachsenden Staat fehlte ihnen.
Bis jetzt nimmt man die junge Partei wenig wahr. Die Zürcher Sektion strebte 2015 einen Sitz im Nationalrat an, ging aber leer aus. Aber weil Vorstandsmitglied Simon Amberg auch Co-Präsident des Komitees der No-Billag-Initiative ist, findet Up! jetzt mehr Beachtung. In der «Arena» des Schweizer Fernsehens wiederholte er das Mantra der Initianten, dass es für eine ausgewogene Berichterstattung keinen Staat brauche. Weil in einem Grossteil der Bevölkerung die Nachfrage nach neutralen Informationen bestehe, würden Sendungen wie die «Arena» auch nach Annahme der Initiative weiterbestehen. Beim Privatsender Tele Top nahm er Stellung zum «No Billag»-Buch von Roger Schawinski und betonte, wie wichtig es sei, dass Bürgerinnen und Bürger selber entscheiden können, für welche Medien und Inhalte sie bezahlen, statt vom Staat dazu gezwungen zu werden.
Dieser Glaube an den allmächtigen Markt und die absolute Freiheit gehört zu den zentralen Positionen von Up!. Für sie ist – ganz nach dem Vorbild der russischamerikanischen Autorin und Philosophin Ayn Rand (1905–1982) – nur ein Minimalstaat tolerierbar, der die Freiheitsrechte der Bürger garantiert. Was darüber hinausgeht, umschreiben sie mit «staatlichem Zwang», was «ein nicht-legitimer Freiheitseingriff» und deshalb abzulehnen sei. Die Verfechter des Privateigentums wollen, dass alles, was «der Mensch mit seiner Arbeitsleistung erarbeitet oder gegen Erarbeitetes eintauscht», ihm gehört. Ein Staat, der Steuern erhebt, verübe Diebstahl am Individuum. Ein Staat, der Hilfe für Bedürftige bereitstellt, ist mit ihrer Ideologie unvereinbar, weil «ein Anrecht auf die Leistung anderer (z. B. Sozialhilfe) immer auch eine Einschränkung der anderen (z. B. Zahlungszwang) verursacht».
Up! fordert ausserdem die Liberalisierung des Waffengesetzes. Wenn Polizei und Armee bewaffnet sind, sollen das auch Zivilpersonen sein dürfen. Sie plädieren für die Gleichberechtigung von Homosexuellen, Trans- und Intersexuellen, sind aber dagegen, dass man diese mit weiteren Antidiskriminierungsgesetzen schützt. Sie sind für Sterbehilfe und gegen den Überwachungsstaat. Up! will neben den Medien auch staatlich Geregeltes wie Vorsorge, Bildung oder Verkehr privatisieren.
Brutstätte Silicon Valley
Danach gefragt, wie die Bildung im libertären Traumland aussehen müsste, sagt Simon Scherrer: «Freiheitlich wäre, dass Eltern jene Schule auswählen könnten, die für ihr Kind am besten passt, und diese dann bezahlen. Möglich wären auch staatlich finanzierte Bildungsgutscheine.» – Aber was ist, wenn Eltern sich eine Schule nicht leisten können? Woher nimmt der Staat die Gelder für Bildungsgutscheine, wenn man Steuern als Diebstahl am Individuum betrachtet? Ähnliche Fragen tauchen bei der Vorsorge auf: Wer bezahlt Pflege- und Spitalkosten für jene, die ihr Geld ausgegeben oder gar nie genügend verdient haben, um etwas beiseite zu legen? Up! pocht auf Selbstverantwortung und hält sich in Sachen Solidarität an den US-Ökonomen Murray N. Rothbard (1926–1995), der schrieb: «Es ist einfach, extrem mitfühlend zu sein, wenn andere gezwungen werden, die Kosten zu tragen.»
Obwohl viele der libertären Ideen attraktiv klingen, machen solche Beispiele nachvollziehbar, warum der Libertarismus von manchen als «Anarchismus für Reiche» oder «Union der Egoisten» bezeichnet wird.
Die Wahl von Donald Trump hat auch den Libertären in Europa und in der Schweiz Aufschwung gegeben. Er und sein ehemaliger Chefstratege Stephen Bannon haben ihnen Hoffnung gemacht, dass es möglich ist, den Staat zurückzubauen. Bannon sagt, er wolle «alles zum Einsturz bringen und das komplette heutige Establishment zerstören». Er ist für totale staatliche Deregulierung.
Aber noch bedeutender als Figuren wie Bannon ist für die Verbreitung von libertärem Gedankengut das, was im Silicon Valley geschieht. Das Tech-Tal in Kalifornien ist bevölkert mit geschäftstüchtigen Kreativen, die das Internet in den 1990er Jahren als letzten freien Ort der Welt zu preisen anfingen. Sie wollten den regulierten Markt mittels digitalen Technologien unterwandern.
Wie hoch das disruptive Potenzial von digitalen Technologien ist, beschreibt Jamie Bartlett, Autor und Vorsteher des Think-Tanks «Demos» am Centre for the Analysis of Social Media an der Universität Sussex, in mehreren Büchern. In «Radicals» stellt er Gruppen von «Aussenseitern, die die Welt verändern», vor. Sein Buch macht deutlich, wie sehr « Libertarismus » heute zu einem Überbegriff für alle jene geworden ist, die für Freiheit und gegen Regulierung eintreten, egal ob sie politisch rechts oder links stehen. Eine dieser Gruppen sind die sogenannten Krypto-Anarchisten, also Hacker, aus deren Dunstkreis Bitcoin stammt. Ihr Ziel war es, eine Währung zu schaffen, die anonym ist und jenseits der staatlichen Geldinstitute funktioniert. Lange nahm man Bitcoin nicht ernst, doch vor kurzem entstand ein so grosser Boom, dass die Währung kurz vor der Regulierung steht. Für seine anarcholibertären Schöpfer ist Bitcoin damit gescheitert.
Eine zweite Gruppe, die Bartlett vorstellt, ist das europakritische und populistische «Movimento 5 Stelle», 2005 vom Kabarettisten Beppe Grillo als Blog gegründet. Grillo nützt das Internet extrem erfolgreich, um Anhänger zu rekrutieren. Die Bewegung wuchs in Italien in kürzester Zeit zur zweitstärksten politischen Kraft an.
Die Gruppierungen, die Bartlett beschreibt, haben neben libertärem Gedankengut auch gemeinsam, dass sie auffallend viele junge Anhängerinnen und Anhänger haben. Das dürfte einerseits am Hauch von Anarchismus liegen, den diese Geisteshaltung verströmt. Andererseits daran, dass junge Menschen das Gefühl kennen, von Autoritäten an einem Leben in Freiheit gehindert zu werden. Dagegen gilt es zu protestieren. Die Parole, die in den Achtzigerjahren von jugendlichen Linken kam, «Macht aus dem Staat Gurkensalat», könnten die heutigen Libertären wieder skandieren. Ihre Forderungen sind dieselben: Mehr Freiheit, weniger Staat, mehr Gleichberechtigung.
Aber weil sich mit Linksaktivismus heute niemand mehr provozieren lässt, inszeniert man sich als Opfer von Staat und Demokratie. Man behauptet, die Form des Zusammenlebens, von der Up!-Präsident Scherrer selber sagt, sie funktioniere «erstaunlich gut», bremse einen in seiner Selbstbestimmung aus. «Wir lieben Freiheit», lautet der Slogan von Up!. Die Frage ist, auf wessen Kosten diese Freiheit geht.
(Erschienen in der «NZZ am Sonntag» am 14. Januar 2018. Grafik: NZZaS)