Drehboom in Europa: Und wo bleibt die Schweiz?
Seit Netflix selber Filme und Serien produziert, herrscht ein Drehboom in Europa. An der Berlinale erzählen Vertreterinnen der Schweizer Filmbranche, warum die Schweiz bis jetzt kaum daran beteiligt ist.
«Es reicht!», stand auf Flugblättern, in denen in Berlin gegen die zunehmenden Dreharbeiten protestiert wurde. Ständig seien Parkplätze zugestellt, die Nachtruhe werde gestört, den Läden fehle die Kundschaft. Nach Friedrichshain-Kreuzberg ist jetzt Charlottenburg-Wilmersdorf der beliebteste Drehplatz der Stadt. Bis Ende Oktober 2019 wurden dort 249 Drehs genehmigt, in Kreuzberg waren es im Jahr davor 344. Fast täglich grüsst die Filmcrew.
Neben den üblichen Fernseh-, Werbe- oder Kinofilmdrehs liege der Schwerpunkt der vergangenen zwei Jahre auf Serien für Internetplattformen wie Netflix und Amazon Prime, stellte der Senat fest, der diese Zahlen erhoben hat.
Die boomende Produktionen für Streamingplattformen sei eine echte Konkurrenz zu den Kinofilmen geworden, sagt Ivo Kummer, Filmchef beim Bundesamt für Kultur (BAK): «In Italien wurde der nationale ‹tax credit› schon früh 2019 durch Serienproduktionen ausgeschöpft, Kinofilme hatten keinen Zugang mehr. In Deutschland werden Filmtechnikerinnen und -techniker knapp, und die gestiegenen Löhne verteuern auch die Kinofilme. In der Schweiz wurden schon Dreharbeiten eines Kinofilms verschoben, weil der Regisseur mit einer Fernsehserie beschäftigt war.»
Zu den Schweizerinnen und Schweizern, die in internationale Projekte für Streamingplattformen involviert sind, gehören etwa Baran bo Odar, der mit «Dark» die erste in Deutschland produzierte Netflix-Serie realisiert hat. Lisa Brühlmann führte bei drei Episoden der Krimiserie «Killing Eve» Regie, jetzt ist sie an der Horror-Serie «Servant» von M. Night Shyamalan für Apple TV+ beteiligt. «Wolkenbruch» von Michael Steiner ist bis jetzt der einzige Schweizer Film, der von Netflix gekauft wurde. Dass es je ein Deutschschweizer Netflix-Original geben wird, kann man sich kaum vorstellen. Dafür ist der hiesige Markt zu klein.
Es mangelt an Erfahrung
Koproduktionen sind die realistischere Möglichkeit für Schweizer Produktionsfirmen, um das Angebot von Streamingplattformen mitzugestalten. Am ehesten sogenannte minoritäre Koproduktionen. Das sind Filme, an denen die Schweiz sich beteiligt, die aber hauptsächlich von einem anderen Land hergestellt werden. So wie «Heidi» (2015), ein mehrheitlich deutscher Film.
Um solche internationalen Koproduktionen mit Schweizer Beteiligung zu unterstützen, hat das Bundesamt für Kultur (BAK) 2016 die Filmstandortförderung Schweiz (FiSS) eingeführt. Aber es harzt. Darum sehe die Kulturbotschaft vor, die FiSS anzupassen und die Rückerstattung von getätigten Ausgaben von 20 auf 40 Prozent zu erhöhen. Das soll Anreize schaffen für ausländische Produzenten, vermehrt minoritäre Koproduktionen zu realisieren und in der Schweiz zu drehen, sagt Kummer.
Ob das reicht? An der Berlinale erzählen Vertreterinnen und Vertreter der Schweizer Filmbranche, wo die Probleme liegen. Sie sind sich einig: Die Schweiz ist zu teuer, der Markt zu klein, es gibt keine Steuergutschriften wie in vielen anderen Ländern. Es mangelt an Erfahrung mit internationalen Grossproduktionen. Die Postproduktion etwa sei in der Schweiz meist teuer und weniger gut, sagt Produzent Ivan Madeo von Contrast Film. «Wir bringen pro Franken weniger Qualität auf die Leinwand als die meisten deutschen, französischen, italienischen oder belgischen Filme.»
Im Ausland wiederum hat der Schweizer Film zu wenig Renommee. Andrea Štaka, deren Drama «Mare» an der Berlinale in der Sektion «Panorama» lief, sagt: «Wenn ich vom kroatischen Kino rede, werden die Leute hellhöriger. Der Schweizer Film ist für sie noch nicht attraktiv genug.» «Mare» ist eine schweizerisch-kroatische Koproduktion und werde von beiden Ländern als die ihre gefeiert. So können beide profitieren, findet Štaka.
Damit Koproduktionen der Schweiz über die Landesgrenzen hinausstrahlen, müssen mehr richtig gute Geschichten geschrieben werden. Bestechende Drehbücher entstehen in der Schweiz aber immer noch viel zu selten.
Für Christian Petzold fand das Schweizer Kino in der Zeit statt, «wo klar wurde, dass die Studentenbewegung in die Schweiz hineinschlägt und das Finanzkapital kritisiert wird. Da war was los! Clemens Klopfenstein hat diesen Krimi über die Migros geschrieben und dann wohl kein Geld mehr gekriegt. Alain Tanner, John Berger, Claude Goretta – die haben alle etwas zu erzählen gefunden. Da hatte man plötzlich das Gefühl, dass in den Bauern, in den Tälern anarchistische Gewalt darauf wartet, endlich zum Ausbruch zu kommen.»
«Es gäbe so viele dramatische Geschichten bei uns», sagt Andrea Štaka, «aber wir müssen uns getrauen, sie mutiger zu erzählen.» - «Ein deutscher Dramaturg, der viele Schweizer Projekte betreut, sagte mir einmal, er spüre bei Schweizern immer so eine Angst. Sie getrauen nicht zum Äussersten zu gehen», erzählt die Regisseurin Christine Repond.
Sie warnt davor, Selbstzensur zu üben. Bei ihrem letzten Film, «Vakuum», in dem die Deutsche Barbara Auer die Hauptrolle spielt und der Schweizer Robert Hunger-Bühler ihren Mann, hätten sie «lange diskutiert, ob wir Auers Deutsch-Sein in der Schweiz thematisieren. Von anderen Projekten wussten wir, dass das von Schweizer Förderstellen gerne gesehen wird», sagt sie. «Aber darum geht es nicht in meinem Film. Der handelt von einer Frau, die entdeckt, dass ihr Mann sie mit HIV infiziert hat.»
Wer mit Netflix – oder einem anderen grossen Produktionshaus – zusammenarbeiten will, muss etwas zu sagen haben, braucht eine eigene Handschrift, muss eigenwillige, sperrige Geschichten erzählen, die lokal angesiedelt, aber global bedeutsam sind. Die jüngere Generation versucht das, und immer öfter gelingt es. Etwa Christine Repond, deren «Antonia’s Garden» wir hoffentlich bald zu sehen bekommen. Der Film handelt von einer pädophilen Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht als eine normale Liebesbeziehung.
«Eine dänische Produzentin, die wir getroffen hatten, nannte die Geschichte: ‹controversial as fuck›», erzählt Repond. Beim BAK wurde ihr Projekt in der Entwicklung zweimal mit 5:0 Stimmen abgelehnt. «Widerlich, wie kann man eine Frau nur so zeigen», sei sinngemäss eine der Begründungen gewesen, sagt die Regisseurin.
Weil man von allen Förderstellen ihre jeweilige Meinung zu einem Projekt bekomme, müsse man als Produzent «höllisch aufpassen, dass man nicht irgendwann an den Punkt kommt, wo man sagt: Was soll’s? Und sich auf den Kompromiss einlässt. Einfach, weil du weitermachen willst», sagt Stefan Eichenberger von Contrast Film.
Verhinderung statt Förderung
Andrea Štaka findet, es wäre höchste Zeit für einen Systemwandel. «Das Fördersystem muss stets angepasst werden, es darf nicht unflexibel sein. Im Ausland können wir sehen, wie man das erfolgreich tut.»
Zuerst erschienen am 29.2.2020 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Ricarda Spiegel)