Du willst es doch auch

Eine Reportage aus der Grauzone zwischen Sex und Übergriff.

Wir kannten uns schon eine Weile, hatten auch ab und zu Sex. Eines Abends, als wir bei ihm waren und ziemlich betrunken auf dem Sofa rummachten, wollte er, dass ich ihm einen blase. Ich sagte Nein. Er versuchte mich zu überreden, das mache doch Spass, ich würde schon sehen. Vielleicht wollte ich keine Spielverderberin sein, oder ich hatte Angst um unsere Freundschaft, also gab ich nach. Ich dachte, ich könne ja wieder aufhören. Aber er hielt meinen Kopf mit beiden Händen fest und bewegte ihn auf und ab. Mir kamen die Tränen. Ich hoffte, er würde es nicht merken. — Rahel, 37

Rahel ist eine von zahlreichen Frauen, die sich meldeten, nachdem wir in unserem Bekanntenkreis eine indiskrete Umfrage gestartet hatten: «Hast du beim Sex schon mal etwas getan, was du eigentlich nicht tun wolltest?» Es ging uns nicht um Berichte von Vergewaltigungen, sondern um jene schwer zu bestimmende Grauzone zwischen Sexualität und sexuellem Übergriff. Fast jede Frau – so der Eindruck, den wir gewannen – hat im Bett bereits eine Situation erlebt, in der etwas gegen ihren Willen geschah.

Zu jedem Opfer gibt es einen Täter. Doch die Männer, die wir fragten: «Hast du schon mal eine Frau zu etwas gedrängt, obwohl du wusstest, dass das nicht okay ist?», erzählten uns keine Tätergeschichten. Stattdessen sprachen sie über ihre Verunsicherung: «Woher soll ich wissen, ob ihr Nein meint, wenn ihr Nein sagt?» Oder: «Warum sagt ihr erst hinterher, man sei zu weit gegangen?» Oder: «Ich weiss ja gar nicht mehr, was ich überhaupt noch zu einer Frau sagen darf!»

Während die Männer hilf- und ratlos wirkten, suchten viele Frauen die Schuld bei sich: «So schlimm war es gar nicht.» – «Vielleicht übertreibe ich.» – «Ich hätte ja nicht mitmachen müssen.» – «Ich hätte mich wehren sollen.» – «Vielleicht habe ich es provoziert.»

Wie ist ein solches Verhalten rechtlich zu beurteilen? Was wäre passiert, wenn Rahel den Freund, der sie zum Blowjob drängte, am nächsten Morgen angezeigt hätte? Wahrscheinlich nichts. Es ist nicht einmal klar, ob er überhaupt gemerkt hat, dass sie weinte und aufhören wollte. Ohne Vorsatz aber besteht keine Strafbarkeit wegen eines Sexualdelikts. Hätte der Freund hingegen gemerkt, dass sie nicht mehr will, und daraufhin ihren Kopf gewaltsam festgehalten, dann hätte er sich strafbar gemacht. Diesen kleinen, aber entscheidenden Unterschied festzustellen ist für Strafverfolgungsbehörden extrem schwierig.

Selbst wenn der Freund nachweislich Gewalt angewendet hätte – eine Vergewaltigung wäre dies trotzdem nicht. Verge-waltigung liegt laut schweizerischem Sexualstrafrecht nur dann vor, wenn ein Penis in eine Vagina eingedrungen ist. Ein erzwungener Blowjob oder eine anale Penetration, ob mit einem Penis oder Gegenstand, erfüllen nur den Straftatbestand der sexuellen Nötigung, auch wenn eine nichtvaginale Penetration sogar stärker traumatisierend sein kann. Zwar sprechen Gerichte ähnlich hohe Strafen aus, trotzdem werden sie – für die Opfer absolut nicht nachvollziehbar – rechtlich unterschiedlich bewertet.

Und wenn Rahel während des Geschlechtsverkehrs deutlich «Hör auf» gesagt hätte? Auch dies würde nur zu einer Verurteilung wegen sexueller Belästigung führen. «Nein» zu sagen reicht bei heutiger Rechtsprechung für eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung jedenfalls nicht immer aus; die Frau muss sich physisch gegen den Täter wehren, um Hilfe schreien oder flüchten. «Das sind unfaire Verhaltensanforderungen an eine Person, die mit einem unerwünschten sexuellen Kontakt konfrontiert wird», sagt Nora Scheidegger vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern. Es handele sich um eine Ausnahmesituation, in der man nicht immer rationales Handeln erwarten dürfe. Heute wisse man, dass viele Opfer erstarren und nicht so handeln, wie sie gern gehandelt hätten. Weil vor dem Gesetz sexuelle Belästigung nur als Übertretung, nicht als Vergehen oder Verbrechen gilt, wird das Weitermachen trotz eines ausdrücklichen «Nein» nur als Bagatelle eingestuft. «Eine solche Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung als geringfügiges Unrecht zu qualifizieren, ist nicht angemessen», sagt Scheidegger, die eine Dissertation über das «reformbedürftige schweizerische Sexualstrafrecht» schreibt.

Theoretisch sollte der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung seit der Gesetzesrevision von 1991 im Mittelpunkt des Schweizer Sexualstrafrechts stehen. «Das aktuelle Gesetz und die Rechtsprechung können diesen Schutz aber nicht garantieren», sagt Scheidegger – weil nach wie vor nur die Nötigungsmittel relevant seien, nicht aber der missachtete Wille des Opfers. «Würde man das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ernst nehmen, müsste der entgegenstehende Wille das entscheidende Kriterium sein», sagt die Juristin.

«Ich lag da wie ein Brett»

Ich war 17, als ich zum ersten Mal mit einer Freundin in die Ferien reisen durfte. Wir fuhren nach Italien, zu einem Bekannten meiner Freundin. Der Bekannte hatte einen stinkreichen Kollegen, der von Anfang an ein Auge auf mich geworfen hatte. Als wir im Auto sassen, legte er die Hand auf meinen Oberschenkel, ich stiess sie weg, er probierte es nochmals. Als wir in einem seiner Häuser zu viert einen eigentlich lustigen Abend verbrachten, tischte jemand Tequila auf. Ich hatte keine Erfahrung mit Alkohol und fühlte mich schon bald ziemlich angetrunken. Da forderte mich der Stinkreiche auf, mit ihm nach unten in ein Zimmer zu gehen. Ich wollte nicht. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sagte: Wenn du nicht mitkommst, springe ich! Keine Ahnung, warum mir das so Eindruck machte. Jedenfalls ging ich mit und lag da wie ein Brett, als er – wie soll ich sagen? – mit mir schlief. — Jasmin, 56

Es ist eine von vielen negativen Erfahrungen, die Jasmin gemacht hat. Ihr Leben lang ist sie belästigt worden. Selbst wenn sie nur vor einem Schaufenster stehen blieb, um sich Schuhe anzusehen, griffen ihr Männer an die Brüste oder zwischen die Beine. Wir erzählten männlichen Bekannten von Jasmins Erlebnissen; die Reaktionen irritierten: «Vielleicht zieht sie das ja an», sagte ein Freund. – «Vielleicht lag es an ihren Kleidern», sagte ein anderer. – «Ich will ja nichts entschuldigen, aber...» – «Wenn ihr das ständig passiert, muss irgendwas an ihrem Verhalten die Männer provozieren. So wie es ja auch Männer gibt, die immer wieder in eine Schlägerei geraten.»

Selbst Frauen vermuteten, es könne an Jasmins Ausstrahlung liegen: «Vielleicht grenzt sie sich zu wenig ab, und der Täter spürt das», sagte eine.

Solche Sätze offenbaren die tief verankerte Vorstellung, dass der Mann ein von Lust getriebenes Wesen ist und die Frau die Verführerin. Für diese Sichtweise wurde im englischen Sprachraum der Begriff der «Rape Culture» geprägt: «Vergewaltigungskultur». Er impliziert, dass Männer wegen ihrer Triebe eine Art naturgegebenen Anspruch oder gar ein Recht auf Sex hätten. Das führt dazu, dass man Opfern wie Jasmin mit Misstrauen begegnet und ihnen unterstellt, es wäre nichts passiert, hätten sie sich anständig angezogen, keinen Alkohol getrunken, sich nachts nicht allein auf die Strasse getraut. «Victim Blaming» nennt sich das wiederum im angelsächsischen Raum: Schuldzuweisung ans Opfer.

Am offensichtlichsten wird Victim Blaming bei Missbrauchs- oder Vergewaltigungsvorwürfen gegen prominente Männer: Wenn Frauen Stars wie Johnny Depp, David Garrett oder Bill Cosby der Vergewaltigung beschuldigen, heisst es in den Medien schnell, die Frau wolle sich damit bereichern oder an dem Mann rächen. Dabei ist die Quote an vorgetäuschten Vergewaltigungen extrem tief. «In 23 Jahren habe ich es nur ein einziges Mal erlebt, dass eine Frau einen Mann fälschlicherweise beschuldigt hat», sagt etwa Bettina Steinbach von der Frauenberatung sexuelle Gewalt Zürich.

Für die mediale Berichterstattung aber sind jene Fälle besonders attraktiv, bei denen die Faktenlage umstritten ist. Bei juristisch eindeutigen Fällen hingegen bleibt das öffentliche Interesse eher gering – selbst wenn diese in der Zahl bei weitem überwiegen. Eine 2014 in Wien durchgeführte Erhebung ergab, dass nur jede 43. bei der Polizei angezeigte Vergewaltigung in den Medien vermeldet wurde. Dadurch entsteht der Eindruck, sexualisierte Gewalt sei eine Seltenheit. Die Kriminalstatistik des Schweizerischen Bundesamts für Statistik al-lerdings sagt das Gegenteil: Im letzten Jahr wurden 6756 «Widerhandlungen gegen die sexuelle Integrität» registriert. Unter den «schweren Gewaltstraftaten» folgen Vergewaltigungen mit 532 Straftaten an zweiter Position auf schwere Körperverletzungen (616 Straftaten). Anders als in Filmen oft dargestellt, ereignen sich sexuelle Übergriffe nicht in der dunklen Gasse, sondern im Alltag. Sind die Täter keine Fremden. Das zeigt der Blick in die Statistik der Frauenberatung sexuelle Gewalt Zürich: Von den 1056 Frauen, die sie 2015 betreuten, kannten fast 75 Prozent den Täter. Bei knapp einem Viertel war es der Ehemann oder Partner, bei 11 Prozent der Ex.

Die Frau, Privateigentum des Mannes

Warum sexualisierte Gewalt alltäglich ist und zugleich so ignoriert, hat eine lange Geschichte, die bis in die Antike reicht. Ein wichtiger Einschnitt aber war die Industrialisierung, als die bäuerliche Grossfamilie verschwand und die Fabrikarbeit eine neue Arbeitsteilung erforderte. Während der Mann das Geld fortan ausser Haus verdiente, erzog die Frau zu Hause die Kinder, wusch, putzte, sorgte für ein trautes Heim. Es kam zu einer Hierarchisierung von Tätigkeiten, die fortbesteht: Bis heute wird Hausarbeit nicht als «echte» Arbeit angesehen, Hausfrauen erhalten keinen Lohn.

Ehe und Familie betrachtete man als so wichtigen Wert, dass man eigene Gesetze dafür schuf. Die Ehefrau wurde zu einer Art Privateigentum des Ehemannes – das liess sich noch bis 1991 am Schweizer Sexualstrafrecht ablesen: Bis zur ersten Teilrevision galt Vergewaltigung in der Ehe nicht als Vergewaltigung; schliesslich hatte die Gattin ihre «ehelichen Pflichten» zu erfüllen.

Im 19. Jahrhundert entwickelten (männliche) Wissenschaftler auch das Konzept der «Geschlechtscharaktere». Der Frau wurde dadurch ihre eigene Sexualität abgesprochen, sie galt von Natur aus als frigide. Von der Ehefrau wurde erwartet, dass sie die unbändige Sexualität des Mannes zügle, schreibt die Historikerin Elisabeth Joris. Auch in Charles Darwins Evolutionstheorie findet sich die These, dass die Frau deswegen fürsorglich und sexuell zurückhaltend sei, weil ihr bei der Zeugung die passive, empfangende Rolle zukomme. Der Mann dagegen sei der aktive Part, der sexuell Bestimmende. Daraus wurde gefolgert, dass er der Frau auch geistig überlegen sei.

Je mehr allerdings die Ehefrauen als keusche Engel frei von jeder Sinnlichkeit gepriesen wurden, desto populärer wurde das Gegenbild: das der Femme fatale – der Verführerin, der die Männer die Schuld für ihren Ehebruch zuschieben konnten. Und während man Männer, die ihre sexuellen Bedürfnisse bei sogenannten leichten Mädchen auslebten, gewähren liess, wurden Prostituierte von der Polizei gejagt und gesellschaftlich geächtet.

Die Werbeindustrie der 1950er- und 60er-Jahre schliesslich machte die Frau endgültig zum Objekt der Begierde. Zunächst lachten noch solide, propere Hausfrauen von den Plakaten, bald aber verdrängten sie die Pin-up-Girls, Sexbomben vom Schlag einer Brigitte Bardot oder Marilyn Monroe: jung, schön, sexy und scheinbar jederzeit zu haben. Die sexuelle Befreiung, sagt Elisabeth Joris, «war vor allem eine Befreiung für männliche Vorstellungen: Die nackte und sexuell verfügbare Frau hatte in den Illustrierten, im Sexshop, im Pornokino ihren festen Platz eingenommen.»

Nach wie vor behauptet Werbung, es sei die Hauptaufgabe von Frauen zu gefallen. Literatur und Film – ob «Fifty Shades of Grey» oder «Twilight» – tun ein Übriges: Darin erscheint die Frau in erster Linie als attraktiv und schwach. Als uraltes Klischee: stets auf der Suche nach der muskulös-breiten Schulter, an der sie sich, auf High Heels wankend, festhalten kann. Sein Ziel: sie flachzulegen. Ihr Ziel: ihn zu heiraten. Auf der anderen Seite gibt es Serien wie «Homeland» oder auch «Tatort», in denen Frauen selbstbestimmt wirken, stark, mental wie körperlich nicht selten knallhart. Und Männer wie Trottel und Memmen, wie das eigentlich schwache Geschlecht. Warum aber wirkt das veränderte, vielschichtigere Frauenbild nicht zurück auf den sexuellen Umgang? Warum hat sich dennoch nicht mehr in den Köpfen bewegt?

Bis heute wehrt sich die Gesellschaft gegen die Vorstellung, «dass Frauen Sex um seiner selbst willen haben und er ihnen Spass bereitet, ihn nicht nur im Tausch gegen Geld, Status oder Sicherheit über sich ergehen lassen». Das schreibt Laurie Penny, die britische Feministin in ihrem Buch «Unsagbare Dinge». Seit der Erfindung der Pille könnten Frauen eine Menge unbekümmerten Sex haben, aber wenn sie den tatsächlich haben, gelten sie wie eh und je als Schlampen. «Die ideale Frau ist fickbar, fickt aber nie selbst», sagt Penny. «Wir haben uns nicht nach Erregung, Ekstase und Schweissgeruch auf der Haut zu sehnen. Männer haben Sex, Frauen sind Sex.»

Die Idee, dass Frauen beim Sex den passiven Part zu spielen haben, ist nicht totzukriegen. Auch nicht bei den Frauen, mit denen wir sprachen.

Es war in den Ferien in Frankreich. Mein Freund wollte Sex, ich sagte Nein. Wir gingen duschen, da fragte er nochmals, obwohl ich schon Nein gesagt hatte. Plötzlich fiel der Strom aus, und wir standen im Dunkeln. Da hörte ich, wie er anfing, sich neben mir einen runterzuholen. Ich blieb wie gefangen minutenlang neben ihm stehen, obwohl ich angewidert war. — Muriel, 28

Danach gefragt, warum sie sich nicht gewehrt habe, erwiderte sie: «Ich hatte Angst, dass er mich zurückhalten und zu etwas zwingen würde. Oder dass er wütend wird und wir streiten. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas gegen seine Erlaubnis tue, wenn ich rausgehe.»

Wir Ja-Sagerinnen

Warum sagen Frauen Ja zu sexuellen Handlungen, die sie nicht wollen? Christa Gubler, klinische Sexologin und Paartherapeutin, sagt: «Frauen wollen gefallen, auch im Bett, darum fügen sie sich. Egal, ob in einer Beziehung, Ehe oder beim One-Night-Stand.» Sie beobachtet, dass Frauen um keinen Preis das Gleichgewicht in ihrer Beziehung, etwa durch Streit, riskieren wollen. Lieber kuschen sie. «Es geht sogar so weit, dass sie sich eher etwas antun lassen, als selbst physische Gewalt gegen ihren Partner anzuwenden.»

In ihren Seminaren fragt Gubler die Frauen, warum sie Sex haben. Damit der Abend friedlich verläuft, antworten sie manchmal. Damit es mehr Haushaltsgeld gibt. Oder weil ich ebenso häufig Sex haben muss wie meine Freundinnen. Sie erklärt sich deren Verhalten damit, dass man als Mädchen nach wie vor lerne: Liebe bekommt nur, wer folgsam ist. So erzogen, falle es später schwer, in der Beziehung aufzubegehren. Wenn ein Mann zum Beispiel einen Blowjob, Analsex oder Bondage-Spiele verlangt und das der Frau zuwider ist, dann neige sie dazu, sich zu fragen, ob sie als Frau nicht richtig funktioniere, anstatt danach, ob der Mann ihr vielleicht zu viel abverlange. «Frauen nehmen die Bedürfnisse des Gegenübers ernster als ihre eigenen.» Und manche lassen sich in ein Abhängigkeitsverhältnis drängen, in dem es nicht unbedingt unter Drohung und Schlägen zu sexueller Gewalt kommt. Sondern aufgrund subtiler Mechanismen. Gerade in längeren Beziehungen, wo nicht immer beide Partner die gleiche Lust auf Sex haben. Selbst wenn ein Paar miteinander vertraut sei, sagt Gubler, bleibe oft unklar, ob beide vollkommen einverstanden seien mit dem, was beim Sex geschieht.

«Sie hat nicht Nein gesagt»

Vielleicht dachte ich, als ich mich auf seinen Wunsch nach einem Blowjob einliess, zuerst wirklich, dass es okay sein könnte. Ich hatte ja schon Lust auf ihn, aber halt nicht darauf, seinen Schwanz in den Mund zu nehmen. Wenn er meinen Kopf nicht festgehalten hätte, hätte ich aufgehört. Eigentlich hätte ich ihn beissen sollen. Haha! — Rahel, 37

Gubler bezeichnet Männer, die nicht auf die Zeichen von Frauen reagieren können, als «sexuelle Analphabeten». Sie würden nur an die Befriedigung ihrer Lust denken, ohne sich auf die Partnerin einzulassen. Das hänge damit zusammen, dass viele Männer auf Teufel komm raus zum Orgasmus kommen wollen. Wenn sie etwa onanierten, dann nicht mit dem Ziel, den eigenen Körper zu erkunden, weshalb Frauen eher masturbieren. Daran seien aber nicht nur die Männer schuld: Lange sagte ihnen einfach keiner, dass ein erfülltes Sexleben mehr heisse, als dem Orgasmus nachzujagen. Immer wieder würden männliche Klienten ihr erzählen, sie hätten das Nein der Partnerin nicht gehört. Oder dass sie dieses Nein als «Noch nicht» interpretierten, worauf sie die Frau weiter umgarnten oder bedrängten.

Viele bereuen ihr Verhalten, rechtfertigen sich aber gleichzeitig mit Ausflüchten wie: «Sie wollte es ja auch.» – «Sie hat nicht Nein gesagt.» – «Sie hat mich zu lange auf dem Trockenen sitzen lassen.»

Ein 42-jähriger Mann schilderte uns einen Vorfall so: Meine Frau hat sich alles genommen, ich kam in der ganzen Beziehung viel zu kurz. Sie fand das auch, sagte manchmal, ich solle mehr entscheiden, sie nicht immer fragen, nicht so von ihr abhängig sein. Dann ist es passiert. Ich habe so tierisch Lust auf Nähe bekommen, auf Sex. Ich tat es einfach. Ich hörte schon, dass sie Nein sagte, sah auch, wie sie weinte. Aber ich dachte: Es ist so intensiv, das kommt schon noch. Jetzt tut es mir sehr leid. Ich will meine Frau nicht verletzen. — Thomas, 42.

Vom Waschlappen zum Vergewaltiger, ist es so simpel? Martin Bachmann vom Mannebüro Züri beobachtet bei seinen Klienten ein fehlendes Gespür für die eigenen Bedürfnisse. Wem das aber fehlt, der kann weder sich noch seine Partnerin richtig einschätzen. Nur wenn beide wissen, was sie wollen und brauchen – emotional wie sexuell –, komme niemand in der Beziehung zu kurz.

Offenbar sind wir nicht gut darin, auf unser Gefühl zu hören. Oder wir trinken manchmal einfach zu viel und überhören es. In vielen Geschichten, die man uns erzählte, spielte Alkohol eine Rolle. Nüchtern betrachtet, hätte sich Rahels Freund vielleicht bewusst gemacht, dass er sie verletzte und die Beziehung aufs Spiel setzte.

Und so brauchte es auch einige Gläser Bier, bis mancher zu erzählen begann:

Es ist schwierig, mich an alles zu erinnern... Es war mit meiner Ex-Freundin. Mit ihrem Ex hatte sie im letzten Jahr keinen Sex mehr gehabt. Mit mir änderte sich das, jedenfalls am Anfang. Aber mit der Zeit zeigte sich halt doch, dass meine Libido ungleich stärker war als ihre. Unsere Beziehung wurde bald weniger harmonisch. Zärtlichkeit war für sie die Voraussetzung für Sex. Nicht, dass mir das nicht auch wichtig wäre. Aber ich hatte weniger Mühe, den sexuellen Teil der Beziehung zu pflegen als den Rest. Während langer Zeit war es dann immer wieder so, dass sie sich fügte, wenn wir Sex hatten. Im Stil von ‹Der Appetit kommt beim Essen›, würd ich sagen. Oft wollte ich mehrmals hintereinander, sie ganz selten. Wenn, dann brauchte sie eine Weile, bis sie bereit war. Manchmal gab es auch diese Handjob-Abende. Keiner von beiden schlief danach mit dem besten Gefühl ein. Ich glaube, ich habe sie nicht wirklich physisch dazu gedrängt. Es war wohl mehr, dass sie dachte, weil es für mich so wichtig war, gehöre das zur Beziehung. Wir haben auch immer wieder drüber geredet und uns überlegt, wie wir an unserem Sexleben arbeiten könnten. Sie glaubte, Frauen hätten grundsätzlich weniger Lust auf Sex als Männer. Halt so ein bisschen das Klischee. Das ich übrigens nicht bestätigen kann. — Ramon, 34

Warum machen Männer weiter, wenn sie deutlich spüren, dass die Frau nicht wirklich Lust hat? Manche sprachen von einem «Point of no Return»: Wenn die Erregung gross genug sei, sich der Orgasmus anbahne, komme Aufhören nicht mehr infrage. Dann werde es schwierig, die Zeichen richtig zu deuten – weil bei Erregung «dem Gehirn das Blut fehlt», wie es einer formulierte.

Dann kommt ein wesentlicher Unterschied ins Spiel: Wenn Männer nicht (mehr) wollen, können sie nicht mehr. Wenn die Erektion nachlässt, begreift jede Frau sofort, dass etwas nicht stimmt. Während Frauen, die ihre Lust verlieren, ihren Widerwillen sehr bewusst kommunizieren müssen, um verstanden zu werden.

Männer wiederum sind von der Zweideutigkeit der Situation überfordert, wissen nicht einzuordnen, ob Bisse zum Beispiel Anzeichen für Lust oder für Verteidigung sind. Martin Bachmann vom Mannebüro rät seinen Klienten, sich in Einfühlung zu schulen. Und nicht auf jede Zurückweisung gekränkt zu reagieren: «Wenn du dich den ganzen Tag auf deine Freundin gefreut hast und gleich mit ihr im Schlafzimmer verschwinden möchtest, sobald sie nach Hause kommt, ist das schön. Aber wenn sie nicht will, heisst das nicht, dass sie gar nie will, sondern nur jetzt nicht. Ein paar Minuten oder sogar Stunden zu warten bringt mehr, als zu schmollen oder Druck aufzusetzen.» Wenn sie dann aber immer noch Nein sage, müsse man das akzeptieren.

Die grosse Verwirrung

Von Männern wird noch immer erwartet, dass sie den ersten Schritt machen. Auf einer Party wartet die Frau darauf, dass der Mann sie anspricht. Und fragt man Frauen, worauf sie stehen, beschreiben sie oft Bruce-Willis-Typen: Burschen mit kantigem Kinn und viel Muskeln. Sie wollen erobert und genommen werden, wollen einen Krieger und sicher keinen, der nach einer Tasse Pfefferminztee nett fragt, ob es okay sei, wenn er jetzt vielleicht mal den Arm um ihre Schulter lege. Gleichzeitig ist der galante Pfefferminztee-Prinz gefragt, wenn es ums Gründen einer Familie geht. Männer sollen aktive Väter sein und Konfitürenrezepte auswendig kennen.

Die Lage ist kompliziert und für Männer zuweilen schwer zu durchschauen: Einerseits sollen sie fürsorgliche Lebensgefährten und Väter sein, sich an Kindererziehung und Haushalt beteiligen – andererseits ihren Mann stehen, zum Beispiel im Job dominant und durchsetzungsstark auftreten, als echte Kerle. Einer klagte:

Manchmal ist es schwierig mit den Frauen. Schon wenn man ein Kompliment macht, fühlen sie sich belästigt. Wenn ich mit einer Kollegin essen gehe, um etwas Geschäftliches zu diskutieren, geht es gut, solange ich Fragen stelle oder kritisiere. Aber wehe, ich lobe sie, dann kommen sie alle irgendwann mit «Mein Freund sagt..., mein Freund ist...». Was soll das? Ich will ja nicht gleich ins Bett mit ihr, nur weil ich ihr ein Kompliment mache. — Julien, 57

Die meisten Expertinnen wie Experten jedenfalls sind sich einig: Die Emanzipation hat die Vorstellungen, was Weiblichkeit und Männlichkeit ausmacht, unschärfer gemacht.Und vielleicht sind Missverständnisse dann schlicht der Preis auf dem Weg zu einer offeneren, gleichberechtigten Gesellschaft, in der es keine klaren Rollenanweisungen mehr gibt. Keine strikten Vorgaben, was es heisst, Frau zu sein, und was, ein Mann.

Manche, wie die Sexualtherapeuten Doris Christinger und Peter A. Schröter, sehen die sich auflösenden Rollenbilder als Problem: «Frauen wissen nicht mehr, was Hingabe bedeutet, Männer nicht mehr, wie man eine Frau erobert. Die meisten Paare reagieren erleichtert, wenn wir sagen, dass der Mann klar führen soll. Wenn er mit seiner Präsenz und Kraft verbunden ist, kann sie sich hingeben.»Sexuelle Kraft setzt Energien frei, auf beiden Seiten. Das Ausloten dieser Kräfte sollte zum Liebesspiel dazugehören. Ausgerechnet die Sadomasoszene könnte dafür Vorbild sein. Gerade weil «Dominas» und «Sklaven» auf rabiaten Sex stehen, kennen sie ihre Bedürfnisse. Und müssen diese präzise kommunizieren und die Wünsche des anderen respektieren. Wider den äusseren Schein zeugen SM-Praktiken womöglich von mehr Gleichberechtigung und Respekt als konventioneller Sex.

Trotzdem bleibt ein Paradoxon: Obwohl sehr viele sexuelle Tabus gefallen sind, können wir noch immer schlecht darüber reden, was uns gefällt und was nicht. Jeder weiss von seiner Freundin, was sie am liebsten isst. Aber wer, welche Stellung sie mag? Welche Fantasie? Warum fällt uns das Reden darüber so schwer? Manche Forscher konstatieren sogar, dass die Prüderie wieder zunimmt. Besonders Junge hätten so wenig Sex wie nie, trotz Dating-Apps und Onlinedating, fand eine Studie der San Diego State University heraus. Man interagiert wie wild in der virtuellen Welt, in der realen aber werden die zwischenmenschlichen Kontakte seltener. Sex ist überall und ständig ein Thema, bloss nicht der, den wir haben. Am Ende geht es um gelungene Kommunikation: wirklich zuzuhören, wirklich ehrlich zu sagen, was ist.

Vielleicht hat der Mann an diesem Abend auf dem Sofa Rahels Widerwillen gespürt. Vielleicht dachte er, sie ziere sich, das sei Teil eines Spielchens. Vielleicht tat es ihm später leid. Was da auf diesem Sofa passiert ist, nennen manche «nichteinvernehmlichen Sex». Aber wenn es nicht beide wollen, ist das nicht mehr Sex, sondern Vergewaltigung. Dazwischen gibt es nichts. Entweder man schwimmt, oder man ertrinkt.

 

Erschienen in «Das Magazin» des Tages-Anzeigers am 10. September 2016

Zusammenarbeit mit: KERSTIN HASSE, Junior Editor bei «Annabelle» und ANNA MILLER, freie Journalistin.

(Bild: Eric Fischl)

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