Echt stark
Emma Thompson hat sich ihre Karriere lang den Regeln des Filmgeschäfts widersetzt, die Frauen in banale Nebenrollen drängen. Mit ihrem neusten Film wagt sie eine Revolution.
Wow, dieser Mut! Dass sie sich das getraut! Das hört man jetzt von jenen, die «Good Luck to You, Leo Grande» von Sophie Hyde schon gesehen haben. Darin spielt die 63-jährige Emma Thompson die Witwe Nancy, die einen jungen Callboy namens Leo Grande engagiert. Sie will endlich Sex haben, der auch ihr Spass macht. Jahrzehntelang hatte Nancy nur ihrem Mann zur Erfüllung verholfen, eheliche Pflichten nennt man das wohl. Und auch sonst tat sie immer nur, was von ihr erwartet wurde. Spielte ihre Rollen als Ehefrau, Mutter und Lehrerin, achtete nicht auf eigene Bedürfnisse, schon gar nicht auf sexuelle. Sie hatte sich von sich selbst entfremdet. Jetzt lernt sie zusammen mit dem Callboy ihren Körper neu kennen.
In dem Bild, von dem jetzt alle reden, betrachtet Nancy sich nackt im Spiegel. Neugierig und versöhnlich statt ratlos oder angewidert. Und dafür wird Emma Thompson jetzt «mutig» genannt. Eine andere Schauspielerin würde sich bedanken. Nicht Thompson. Sie reflektiert stattdessen im Zoom-Interview, warum von Mut die Rede ist: «Es ist so bezeichnend. Dabei ist es normal, nackt zu sein, 63 zu sein, einen normalen Körper zu haben. Aber es gilt nicht als normal. Weder im Film noch sonst in der Welt. Und nur weil das so ein ungewohntes Bild ist, nennen wir es mutig.»
Es fällt schwer, sich eine andere Schauspielerin vorzustellen, die Nancy mit so viel Ehrlichkeit spielen könnte. Nur wenige in diesem Geschäft sind so uneitel und selbstsicher wie die Britin, die sich nicht scheut, biedere Figuren zu spielen, und das so, dass sie in Erinnerung bleiben. Sie hält auch nichts davon, sich jünger zu geben, als sie ist. Das machte sie 2019 in einem Interview klar. Man kam in der Runde aufs Altern zu sprechen, eine Journalistin wollte nett sein und sagte: «Aber Sie sind doch nicht alt!» «Doch», erwiderte Thompson. «Ich bin 60, und das ist nicht jung. Es ist wichtig, das zu sagen.»
Unvorstellbar, solche Sätze von Berufskolleginnen wie Sarah Jessica Parker oder Sandra Bullock zu hören. Diese liessen sich in «And Just Like That» die Füsse beziehungsweise in «Bullet Train» das Gesicht computertechnisch glätten. Und während so viele andere Schauspielerinnen und Schauspieler sich mit plastischer Chirurgie zu konservieren versuchen, hat Thompson sich nicht einmal ihre Zähne in perfekte Reihen zwingen lassen.
Weil sie aussieht wie ein echter Mensch, ist Thompson auf der Leinwand so glaubwürdig. Die Szene in «Love Actually», in der ihre Karen an Weihnachten dieses Paket öffnet, Schmuck erwartet, aber eine CD von Joni Mitchell vorfindet, ist eine der bittersten und einprägsamsten des ganzen Films. Sie täuscht Freude vor, während sie innerlich in sich zusammenstürzt, weil sich ihre Ehe als Lüge erweist. Das alles spielt sich in Sekunden auf Thompsons Gesicht ab.
Emma Thompson, 1959 in London als Tochter eines Schauspielerehepaars geboren, hat sich ihre Karriere lang gegen Zwänge gewehrt, mit denen konfrontiert ist, «wer per Zufall in einem Frauenkörper geboren worden ist», wie sie im Gespräch sagte. Sie hat die Strukturen nie akzeptiert, die es normal machten, dass das Publikum vor allem junge und schöne Frauen in Nebenrollen zu sehen bekam.
Sie kämpft für Respekt und hat ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass die Figuren, die sie spielt, einen Einfluss haben auf die Realität. Dass Filmbilder Unvorstellbares vorstellbar machen und sie als Filmemacherin – sie schreibt auch Drehbücher – also eine Verantwortung trägt. Vor allem den Frauen gegenüber, davon spricht sie in sehr vielen Interviews. Thompson sieht sich als Vorbild. Sie ist nicht nur Feministin, sie ist auch Aktivistin und macht ihre Arbeit zur Waffe im Kampf gegen Ungleichheit. Im Zoom-Gespräch hebt sie die Faust einmal zum «Women Power»-Gruss.
Man kann sich leicht denken, was sie von dem Artikel gehalten haben muss, der 1995 im «New Yorker» erschienen ist, in dem ein Journalist von seiner Begegnung mit der «schönen und geistreichen Britin» erzählt, eine Beobachtung, die er zweimal wiederholt. Eigentlich hatte er sich mit Thompson über ihre Liebe zu den Schriftstellerinnen Jane Austen, George Eliot und Charlotte und Emily Brontë unterhalten – und es war ihm ein Anliegen, ihre Intelligenz zu betonen. Aber diese strahlende, weiche Haut! Dieser knallrote Hosenanzug! Die Frisur!
Dass Texte wie dieser heute so lächerlich wirken, zeugt von gesellschaftlichem Wandel. Diesen kann man auch an Emma Thompsons Arbeit ablesen. «In den letzten zehn Jahren habe ich so interessante Rollen gespielt wie noch nie», sagte sie in einem Interview. «Ich habe Menschen verkörpert, die ich noch nie gesehen habe.» Eine Richterin in «The Children Act», eine Late-Night-Moderatorin in «Late Night», eine 77-jährige Serienkillerin.» Als Populistin Vivienne Rooke in der Serie «Years and Years» war sie einschüchternd gut.
Seit Harvey Weinstein gefallen und die MeToo-Bewegung entstanden ist, hat eine Bewusstseinserweiterung stattgefunden, was Geschlechterstereotype angeht, auf die Thompson hingearbeitet hat. Aber sie bleibt skeptisch. Kritisiert einen Grossteil der Rollen, die heute für Frauen geschrieben werden. Statt Hausfrauen und zu rettende Fräuleins gibt es jetzt lauter harte Agentinnen, Killerinnen, Polizistinnen. Was dazwischenliegt, ist nicht spektakulär genug? «Wir haben es immer noch nicht geschafft, dass im Kino ausgelotet wird, was Frausein eigentlich bedeutet», kritisiert Thompson. Deshalb ist «Good Luck to You, Leo Grande» so revolutionär. Oder wann hat es im Kino je einen Film gegeben, der von den sexuellen Nöten einer 63-jährigen Frau handelt?
Emma Thompson wurde bekannt mit Rollen von zugeknöpften, reservierten Figuren, die durch Intelligenz, Brillanz, Besonnenheit und Willensstärke auffallen. Weil sie ein Gesicht hat, an das man sich nicht erinnern würde, wenn sie kein Filmstar wäre, hat man nicht den Eindruck, Thompson beim Spielen zuzusehen. Sie tritt vielmehr hinter ihre Figuren zurück. Zu den bekanntesten gehören die Haushälterin Miss Kent in «The Remains of the Day». Oder Margaret Schlegel in «Howard’s End», die Rolle, die ihren Durchbruch markierte und für die sie 1992 einen Oscar gewann. Auch Elinor Dashwood in «Sense and Sensibility», der Jane-Austen-Adaption, für die Thompson das Drehbuch schrieb und damit 1995 ihren zweiten Oscar gewann. Trotz Exkursionen zu Fantasy und Märchen mit «Harry Potter» oder «Cruella» blieb Thompson den Zugeknöpften und Verkopften treu. 2013 etwa, als die sehr britische «Mary Poppins»-Autorin P. L. Travers, die in «Saving Mr. Banks» ihr Buch vor Walt Disneys Trickfilmzeichnern bewahren will.
Man kennt Thompson zwar für diese spröden Frauen, aber ihre Karriere fing an mit Comedy. Während ihres Studiums in Cambridge war sie Mitglied der Theatertruppe Cambridge Footlights, wo sie mit Stephen Fry und Hugh Laurie Sketche aufführte. Eigentlich habe sie Stand-up-Comedy machen wollen, sagte sie damals im Gespräch in «Late Night», aber in der Zeit sei das für Frauen nicht möglich gewesen.
Dafür macht ihr komisches Talent Thompsons Spiel heute reicher. Es gibt ihr die Lockerheit, solche verkrampften Frauen wie Nancy in «Good Luck to You, Leo Grande» so zu spielen, dass sie Würde haben, statt peinlich zu wirken. Sie hat die Gabe, Komik durch die Tragik hindurchschimmern zu lassen, ohne überzeichnen zu müssen. Überzeichnung würde eine Figur wie Nancy der Lächerlichkeit preisgeben. Das hiesse, sie zu verraten.
(Zuerst erschienen am 27. August 2022 in der «NZZ am Sonntag». Bild: Steve Vas / Future Image / Imago)