Ein Abend im Leben

Als Qiu Anxiong,43, seine Heimat verliess, wurde er, was er zu Hause nie sein wollte: Chinese. Und dadurch zum erfolgreichen Künstler.

An der Kunstschule in Sichuan mussten wir immer dasselbe malen: Porträts und traditionelle chinesische Landschaften, immer im selben Stil. Ich wollte Künstler sein, aber so was wollte ich nicht. Ein Lehrer lud uns eines Abends nach Hause ein und zeigte uns ein Buch von Joseph Beuys. Als ich dieses Buch sah, wusste ich: Das will ich auch. Ich will Kunst machen, die in Beziehung steht zur Gesellschaft, in der ich lebe. Aber ich wusste auch: Das geht hier nicht.

Ich kannte einige Leute in Deutschland, weil zwischen unserer und der Kunsthochschule Kassel eine Partnerschaft besteht. Ich bewarb mich dort und wurde angenommen. Wenn du als Chinese nach Deutschland kommst, ist es, als ob du ins Paradies eintrittst. Ich konnte so vieles sehen, endlich all die Kunstwerke in den Museen betrachten. Aber es war auch schwierig: Du verstehst nichts, alles ist anders. In China ist es laut, in den Restaurants schreien alle, im Zug diskutieren Wildfremde sofort miteinander; in China lernst du alles über Technik und Mathematik, aber nichts über Anstand oder Moral. Und du lernst zu lügen, schon als Kind. In der Schule mussten wir immer schreiben: «Das Land ist super. Die Partei ist super. Die Regierung ist super.» Ich habe mich einmal nicht daran gehalten und geschrieben, was ich zum Thema Arbeit dachte – dass das für mich nichts Schönes ist. «Das meinst du nicht wirklich, hast du so ein dunkles Herz?» fragte mich mein Lehrer. Vielleicht ist darum «Wahrheit» eins meiner Lieblingswörter. In China versuchen sie dir eine einzige Wahrheit einzutrichtern. Aber die Leute sollten darüber nachdenken dürfen, was für sie wahr ist. Das will ich mit meiner Kunst erreichen. Als ich dann in meinen sechs Studienjahren in Kassel sah, wie Animationsfilmer arbeiten, fand ich heraus, in welche Richtung mein Werk gehen sollte. Hör auf, Europäer zu spielen, sagte ich mir. Du bist Chinese. Wenn du Kunst machen willst, dann musst du das als Chinese tun. – Ich musste China verlassen, um ein chinesischer Künstler zu werden.

In «Staring Into Amnesia», meiner ersten grossen Installation, mit der ich 2008 an der Art Basel war, habe ich in die Fenster eines alten Bahnwaggons Filme der angeblich perfekten chinesischen Ge­sellschaft projiziert. Damit wollte ich auffordern, uns an die wahre Geschichte unseres Landes zu erinnern. Nicht an die Geschichte, die die Mächtigen für ihr Volk schreiben. Viele Chinesen warfen einen Blick rein. Aber nur wenige sagten mir, das sei interessant.

Wenn du dich nicht für Politik interessierst und Geld hast, kannst du Spass haben in China. Die wissen: Die Leute müssen unterhalten werden, dann sind sie ruhig. Im Moment ist es einfach, Geld zu machen. Und wer reich ist, macht, was er will, und denkt nur noch an schöne Frauen und Luxus. Wenn sie Lust haben auf ein bisschen Freiheit und frei zugängliche Information, setzen sie sich ins Flugzeug und holen sich, was sie brauchen. Zurück kommen sie wohl nur, um noch reicher zu werden.

Jeder Chinese, der sagt, was er denkt, ist nicht sicher. Aber ich will trotzdem zurück. Hier bin ich immer nur der Fremde. In Shanghai herrscht sogar so etwas wie Aufbruchstimmung. Es ist viel aufregender als im Westen.

 

Erschienen in DAS MAGAZIN des Tages-Anzeigers am 1. November 2014