Ein Nachmittag im Leben

Wenn Susanne Kramer, 43, malt, kann sie alles andere vergessen und wird – frei.

«Früher habe ich getanzt und Klavier gespielt. Heute geht das nicht mehr. Wegen der MS. Jetzt male ich, es ist meine Möglichkeit, mich künstlerisch auszudrücken. Wenn ich male, kann ich alles andere vergessen, trotz der Anstrengung.

Seit dreizehn Jahren male ich jetzt im IWB-Atelier, wo Menschen mit körperlicher Behinderung ihre Kreativität ausleben können. Unsere neue Atelierleiterin hatte eine Idee zu einem besonderen Kunstprojekt: «ensemble, c’est tout». Es sollte nicht nur für uns sein, sondern auch für die Öffentlichkeit. Sie hat zeitgenössische Künstler eingeladen, ich selbst arbeitete in einem Viererteam: Ingrid Stastny und ich mit Esther Kempf und Benjamin Egger. Die beiden arbeiten sonst mit Fotografie, Video, Performance, oder sie machen Installationen. Ingrid und ich konnten uns nicht so viel darunter vorstellen. Aber an diesem einen Nachmittag im Februar haben wir eine neue Welt entdeckt.

Zuerst hatten wir Respekt. Wir sind ja keine professionellen Künstlerinnen. Wir konnten uns nicht vorstellen, wie wir gemeinsam arbeiten würden. Aber sobald wir angefangen hatten, haben wir unsere körperlichen Unterschiede gar nicht mehr bemerkt. Kunst ist Leidenschaft. «Bewegung» war unser Wort. Wir wollten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Fussgängern und Rollstuhlfahrern darstellen. Alle vier waren sofort begeistert, aus einer Idee wurde die nächste, jede haben wir gleich ausprobiert. Das war wunderbar. Ich muss sonst schon immer alles planen: die Pflege, die Termine. Wenn ich in Zürich unterwegs bin und das Tram nehmen will, rufe ich beim Zürcher Verkehrsverein an und frage, ob das im Fahrplan vorgesehene Cobra-Tram tatsächlich kommt.

Für die eine Performance haben wir nach Bewegungen gesucht, die wir alle machen können, also unseren kleinsten gemeinsamen Nenner. Ich kann mich links nur ganz wenig bewegen, Ingrid ist Linkshänderin. Also musste sie auf rechts umstellen. Für eine andere Performance haben wir Helme getragen, auf denen ein Stift montiert war. Wir haben uns hin und her bewegt und damit an die Wand gezeichnet, jeder auf seiner Ebene. Es war sehr spielerisch und lustvoll.

Diese Erfahrungen beeinflussen mich seither. Beim Malen habe ich immer alles genau geplant und – zack, zack – so ausgeführt. Jetzt beginne ich an einem Punkt und lasse es wachsen. Open End. Der Weg, das Auf-mich-Hören, ist wichtiger geworden als das Ergebnis. Auch wenn es anstrengender ist.

Aber auch der Umgang mit meinem Körper hat sich verändert. Ich versuche jetzt Dinge zu tun, von denen ich dachte: Das kann ich doch nicht. Mich nach einer Tasse zu strecken, statt sie mir geben zu lassen, zum Beispiel. Und tatsächlich – meist gehts.

Ich habe mich schon vor diesem Projekt gern durch das Malen ausgedrückt, jetzt hat sich das noch gesteigert; es wirkt zurück auf mein Leben und bringt mir auch körperlich mehr Freiheiten. Dadurch, dass ich mehr wage.»

 

Erschienen in DAS MAGAZIN des Tages-Anzeigers, 28. Juni 2014