Fünf Minuten im Leben
Nachdem sie in Lebensgefahr war, begann IRENE SANTIAGO, 74, für eine bessere Welt zu kämpfen. Für eine weiblichere Welt.
«Bevor ich zur Feministin wurde, dachte ich nie, dass ich Probleme bekommen könnte, nur weil ich eine Frau bin. Ich war eine gut ausgebildete Christin, lebte zwar in einer männerdominierten Welt, aber ich hatte kein Problem damit. Ich dachte, dass Frauen selbst schuld seien, wenn sie ein Problem haben.
Dann leitete ich in den 70er-Jahren an einer Schule in Malabang auf den Philippinen ein Seminar dazu, wie man eine Kinderkrippe organisiert. 20 Frauen und 23 Kinder sassen im Raum, als auf einmal zwei betrunkene Soldaten hereinkamen und anfingen, mit Maschinengewehren in die Luft zu schiessen. In dem Moment, als ich die Angst in den Augen sah, selbst Angst hatte, sie würden uns erschiessen, beschloss ich, dass ich mich gegen solche Gewalt, solchen Irrsinn einsetzen will.
Das war mein Schlüsselmoment für meinen Einsatz für Frieden, für Frauen. Eine Studie nämlich besagt, dass Gewalt nicht abnimmt, sobald es einem Land ökonomisch gut geht, sondern erst wenn Frauen an der Macht sind. Aber damit die Frauen zum Frieden beitragen können, muss sich erst ihr Leben ändern. Also erklärte ich das zu meinem Ziel.
Damals arbeitete ich auch mit muslimischen Frauen auf Mindanao zusammen, die mit Unterstützung der Regierung um ihre Selbstbestimmung kämpften. Es herrschte Kriegsrecht, überall sah man Panzer und Maschinenpistolen. Es war gefährlich, Seminare abzuhalten. Mein Mann und ich stritten uns jedes Mal, wenn ich es trotzdem machte.
Anfang der 80er-Jahre begann ich eine nationale feministische Gruppe aufzubauen, die erste auf den Philippinen. Damals war Genderforschung noch kein Thema, wir hatten jedoch jede Menge Fragen, zum Beispiel: Warum wird Frauen so viel aufgebürdet? Warum sind Frauen weniger wert als Männer?
Wir brachten Frauen auf den Philippinen Lesen und Rechnen bei, damit sie ihre Probleme selbst lösen konnten. Das ist für mich «Empowerment»: Eine derart gestärkte Frau wird ihre Rechte ebenso einfordern, wie sie ihre Pflichten wahrnimmt. Denn wir Frauen sind zwar sehr gut darin, unsere Pflichten zu erfüllen, aber wir wissen oft nicht, wie wir zu unserem Recht kommen. Daher lehre ich: Frauen müssen sich selbst stärken. Man muss ihnen nur zeigen, wie das geht. Frauen in der Schweiz neigen dazu zu sagen: Verglichen mit Frauen in diesem oder jenem Land haben wir hier ja keinerlei Problem. Doch das ist nicht der richtige Weg. Wenn eine Frau etwas verändern will, darf sie nicht ihren Status mit dem anderer Frauen vergleichen. Sondern mit dem der Männer im eigenen Land.
Mit meiner Idee der Women’s Peace Tables möchte ich Frauen rund um die Welt die Chance geben, an sogenannten Friedenstischen von ihrer Situation zu erzählen. Wir zeigen ihnen dann Alternativen dazu auf. Gemeinsam wollen wir Einsichten gewinnen, wie Frauen sich eine bessere Welt vorstellen und wie diese zu organisieren ist. Denn ich bin überzeugt davon, dass die Welt jetzt weibliche Führung braucht – Frauen würden anders führen als Männer. In meinen Reden appelliere ich daher immer wieder an die Frauen: Nennt die Welt, die ihr haben wollt, beim Namen! Nur so können wir diese Welt auch erschaffen.»
Erschienen am 19. März 2016 in «Das Magazin» des Tages-Anzeigers
(Bild: Raffael Waldner)