Eine Enthüllung

Dokumentarfilmer John Maloof zeigt in «Finding Vivian Maier» Leben und Werk einer bisher unbekannten Fotografin. Und nebenbei auch sich selbst.

Sie blicken nachdenklich in die Kamera, manche etwas unwohl an ihr vorbei. „Paradoxical“, sagt eine Frau, „mysterious“ eine andere, „eccentric“, sagt ein Mann. Eine sehr zurückgezogene Frau sei sie gewesen, sagt jemand. Die Männer und Frauen reden von Vivian Maier, einer obsessiv arbeitenden Strassenfotografin, geboren 1929 in New York, gestorben 2009 in Chicago. Sie verdiente ihr Geld als Kindermädchen, aber verbrachte ihre Zeit mit Fotografieren. Und niemand wusste von ihrem grossartigen Werk.

Bis John Maloof, ein junger Stadthistoriker, Makler und jetzt auch Regisseur, 2007 bei einer Zwangsversteigerung eine Kiste voller Negative erstand, die dieser Vivian Maier gehört hatten. Was er fand, beeindruckte ihn derart, dass er es sich zur Lebensaufgabe machte, die Bilder zu sichten und öffentlich zu machen. Zuerst auf einem Blog, dann in Galerien und nun in einem Dokumentarfilm, den er zusammen mit Charlie Siskel geschrieben und gedreht hat. Siskel war Produzent des oscargekrönten Bowling For Columbine von Michael Moore und Religulous von Larry Charles, beides satirische Dokumentarfilme. Wie schon diese beiden Filme, so scheint auch Finding Vivian Maier dem Zuschauer von der ersten Minute an «Sensation!» entgegenzurufen. Eine weitere Parallele: Wie Michael Moore gibt sich auch Maloof nicht damit zufrieden, einfach eine Geschichte zu erzählen, sondern inszeniert sich selber als eine Art investigativer Unterhalter. Er spielt die zweite Hauptrolle neben der Figur, deren Werk er eigentlich huldigen will.

Das ist schade, denn was Maloof per Zufall gefunden und anschliessend in langer Suche zusammengetragen hat, ist tatsächlich eine Sensation. Es sind zehntausende Fotos, die Vivian Maier während 50 Jahren in den Strassen Chicagos aufgenommen hat. Die meisten zeigen die Menschen, denen sie begegnete oder die sie wohl auch verfolgte: elegante Damen, die unter ihren Hüten hervorblicken, weinende Kinder an den behandschuhten Händen ihrer Mütter, krumme Beine von Jungen in kurzen Hosen, ein dösender Kioskmann in seinem Häuschen, eingerahmt von Variety, Life und Rolling Stone.

Fotografen und Galeristen, die Maloof vor die Kamera bittet, vergleichen Vivian Maier mit Künstlern wie Eugène Atget, Henri Cartier-Bresson, Robert Frank. Nur: Was die Experten so begeistert und Maloof uns begeistert vorführt, hat Maier selber möglicherweise nie interessiert. Keines ihrer Fotos wurde je veröffentlicht. Maloof will wissen, warum. Er hastet durch Chicago und bald um die Welt, begleitet von penetrant unternehmungslustig klingender Filmmusik. Er will «die dunkle Seite von Vivian Maier ergründen», wie er sagt und lässt jede Erkenntnis, die er gewonnen hat, von ihren früheren Bekannten im Interview kommentieren. «Sie hätte nicht gewollt, dass das passiert», sagt eine ihrer wenigen Freundinnen in die Kamera.

Maloof kommt einem vor wie ein Tourist, der durch ein fremdes Leben reist. Das ist eine Zeit lang sehr spannend. Aber je stärker er den Fokus weg von Maiers Werk und hin auf ihre Person verlagert, desto mehr werden ihre Bilder zu Indizien, die ihm den Weg zu ihren Wurzeln und ihrem Wesen erschliessen sollen. Damit verrät Maloof in gewisser Weise Maiers Werk, von dessen künstlerischer Qualität er so begeistert war.

Er zeigt nicht die Wirklichkeit – wie sollte er auch, ohne Maier selber befragen zu können, – sondern eine Wahrheit, die er aus Informationsfetzen konstruiert hat. Insofern hat der Filmer etwas gemeinsam mit seiner Fotografin: Bilder von Menschen zu machen, heisst, wie Susan Sontag in «On Photography» sagt, ihnen Gewalt anzutun, sie in Objekte zu verwandeln, die man sich aneignen kann. Warum Maier ihre Opfer, wenn man so will, in Kisten verstaut statt ausgestellt hat, bleibt trotz Maloofs Anstrengungen ein Geheimnis.

 

(Erschienen in der NZZ am Sonntag, 24. August 2014)

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