Eine Verteidigung des Klatschs
Reden über andere hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. In Wahrheit macht Klatsch uns zu besseren Menschen. Aber zu so guten wie in der Serie «Bridgerton» dann auch wieder nicht.
«Hast du schon gehört . . .» – Wie viele Freundschaften wohl mit diesen Worten ihren Anfang nahmen? Klatsch mag einen schlechten Ruf haben. Aber eigentlich ist er ein mächtiges soziales Bindemittel. Laut wissenschaftlichen Studien drehen sich etwa 70 Prozent aller Gespräche um Klatsch und Tratsch. Nichts verbindet zwei Menschen so leicht miteinander wie das Reden über jemand Drittes, besonders dann, wenn beide diesen Dritten nicht mögen. Man verbündet sich gegen einen gemeinsamen Gegner.
Der Anthropologe Robin Dunbar entwickelte in seinem Buch «Grooming, Gossip, and the Evolution of Language» die These, das Reden über Dritte habe zur Entwicklung der Sprache und damit zur Entstehung von Zivilisation beigetragen. Informationsaustausch, ob über Freund oder Feind, war überlebenswichtig. In unserer Gegenwart sind die sozialen Netzwerke die logische Folge dieses urmenschlichen Bedürfnisses, über andere zu reden. Oder sie waren es. Denn heute dominiert Werbung diese Plattformen, und Algorithmen bestimmen, mit wem man interagiert. Hass und Desinformation, der hässliche Cousin von Tratsch, verseuchen alles. So macht das keinen Spass mehr.
Die ungetrübte Freude am Klatsch lebt dafür im Fernsehen weiter. «Bridgerton» wurde (überholt von «Squid Game») zur zweiterfolgreichsten Netflix-Eigenproduktion, wohl weil die Serie dieses «Hast du schon gehört?» so farbenfroh bedient und mit freizügigen Sexszenen selbst Anlass zu Gerede gibt. «Bridgerton» gleicht «Gossip Girl» (2007–12). Dort kommentiert eine unbekannte Person in ihrem Blog das Liebesleben von Jugendlichen der New Yorker High Society. Hier ist es die mysteriöse Lady Whistledown, die in ihrer Klatschkolumne über das Leben des Adels eines kitschigen, diversen und fiktiven Londons in einem fiktiven 18. Jahrhundert schreibt.
Während «Gossip Girl» die zersetzende Kraft von Klatsch hervorhob, handelt «Bridgerton» von dessen widersprüchlichem Charakter: Für die Lords und Ladys ist Klatsch Nahrung fürs gelangweilte Ego. Für Penelope hingegen, die Frau hinter der anonymen und geistreichen Lady Whistledown, ist er die einzige Möglichkeit, um gehört zu werden. Sie ist unsichtbar auf dem Heiratsmarkt, um den sich alles dreht, weil sie klein und rund ist und aus einer Familie am unteren Rand der Adelsschicht stammt. Penelope ist eine schlechte Partie. Aber eine bewunderte und furchtlose Schreiberin, die klatschend Wahrheiten ausspricht über diese von starren Regeln beherrschte Gesellschaft.
Klatsch? Konsumieren die anderen
Sobald eine neue Ausgabe ihrer Kolumne gedruckt ist, reissen die üppig kostümierten Leute einander das Blatt aus den Händen, um zu erfahren, wer seit dem letzten Ball in der sozialen Hierarchie auf- oder abgestiegen ist. Und sie suchen nach Hinweisen nach der Identität dieser Whistledown. Doch würde sie tatsächlich entlarvt, sie wäre für immer geächtet. Ihre Leserinnen und Leser würden Penelope schelten, um sich von der Scham reinzuwaschen, sich auf so etwas Niederes eingelassen zu haben.
In der nun angelaufenen dritten Staffel wird dieser Widerspruch thematisiert. Penelope will sich outen, nachdem sie und ihr Jugendfreund Colin (Luke Newton) endlich zueinandergefunden haben. Aber ihr ist schlecht vor Angst, weil sie weiss, dass sie sich mit diesem Geständnis endgültig in die Unsichtbarkeit stürzen und selbst zum Objekt von vernichtendem Gerede würde.
Weil vor allem solche bösen Konsequenzen in Erinnerung bleiben, hat Klatsch einen schlechten Ruf. Und weil er als etwas typisch Weibliches gilt. Das Wort stammt vom mittelhochdeutschen «klatz», der Bezeichnung für das Geräusch, wenn etwas Weiches auf etwas Hartes trifft. Wie Wäsche gegen Stein. Weil die Wäscherinnen aus den Laken und Hemden Intimes ablesen konnten und einander – klatsch, klatsch, klatsch – arbeitend davon erzählten, besassen sie zu viel Macht. Also musste das, worüber diese gefürchteten Waschweiber sprachen, als wertloses Geschwätz abgetan werden.
Im England des 16. Jahrhunderts sprach «die männliche Klatschkontrolle», wie Christian Schuldt in seinem Buch «Klatsch!» schreibt, ein Versammlungsverbot gegen Frauen aus. Im 17. Jahrhundert wurde zum «Kaffeeklatsch» degradiert, was die Frauen in ihren eigenen «Kaffeekränzchen» besprachen, da sie zu den Kaffeehäusern der Männer keinen Zutritt hatten. In Kaffeehäusern – bis ins 20. Jahrhundert Orte des intellektuellen Austauschs – besprachen die Männer ihre Geschäfte und andere Neuigkeiten. Was bei den Damen Klatsch hiess, war bei den Herren «News». Aus diesen Kaffeehäusern gingen in England die ersten Zeitungen hervor. Der Inhalt: Neuigkeiten und – Klatsch.
Achtung, der grüne Papagei!
Seit Penelope mit sich ringt, ob sie ihre Identität preisgeben soll, trägt sie nicht mehr die Cupcake-bunten Kleider wie ihre Mutter und Schwestern, sondern Grün. Eine Anspielung an «den grünen Papagei», das reale Vorbild für Whistledown? Die britische Autorin Eliza Haywood mokierte sich 1746 in ihrem satirischen Blatt «The Parrot» mit der Stimme eines wütenden grünen Papageis über die britische Oberschicht. Sie gab sich aus als in den Kolonien geraubtes exotisches Tier, das aus seinem Vogelkäfig das rassistische und sexistische Verhalten der britischen «ladies and gentlemen» beobachtete. In den besagten Kaffeehäusern rätselte man darüber, ob ein Mann oder eine Frau hinter diesem Papagei steckte.
Haywood, die so viel über andere wusste, hinterliess der Nachwelt Romane, Satiren und ihre journalistischen Arbeiten – aber ausser vier Briefen nichts Privates. Sie geriet in Vergessenheit, auch weil Berufskollegen wie der Poet Alexander Pope sie als dummes Klatschweib diffamierten. Seit ihre Schriften nun wiederentdeckt werden, erkennen Forscherinnen, dass ihre Werke, die in den 1730er Jahren entstanden sind, voll sind von sozialen und politischen Fragen, auch ihre als obszön geltenden Liebesgeschichten. Loyalität und Beständigkeit interessierten Haywood sowohl im Zusammenhang mit Beziehungen zwischen Frau und Mann wie auch in Bezug auf die wirtschaftliche Ordnung, die immer mehr von Individualismus und Eigeninteressen geprägt sei, wie sie schrieb. Sie fragte, wie man das leicht verführbare Volk vor Lügen und falschen Versprechen von Regierungen schützen könne.
Von solchen politischen Fragen ist Lady Whistledown so weit entfernt, wie wir es heute von Haywoods Lebensrealität sind. Statt auf Politik zu blicken, feiert «Bridgerton» exzessiv die zivilisierende Wirkung von Klatsch, die erwiesene Tatsache, dass schon die Ahnung, man könnte zum Objekt von Gerüchten oder Spott werden, die Menschen zu mehr Selbstbeherrschung anregt. Ohne Klatsch wären wir schlechtere Menschen.
Whistledown hat ihren Adel aber so gut erzogen, dass das in Staffel 3 langsam langweilig wird. Ihre Kolumne hält selbst Intrigantinnen in Schach. Wie Klatsch in dieser bunten Phantasiewelt die jungen Frauen und Männer mit den Regeln in der Welt der Erwachsenen vertraut macht, sobald sie sich dem stets gelangweilten, aber höchst kritischen Blick der Königin aussetzen, so ist Klatsch auch ganz real, in Büros oder in der Politik, ein moralischer Wegweiser, ein Warnsystem, das uns vor vertrauensunwürdigen Subjekten fernhält. Und er ist ein Mittel, um Mächtige zu kontrollieren.
Wir wissen nicht, ob sich King George II. damals vom grünen Papagei einschüchtern liess. In «Bridgerton» ist es einzig die Königin, die ein wenig Respekt hat vor Whistledowns unangenehm mächtiger Feder. Die anderen hoffen, ihrer Aufmerksamkeit würdig zu sein und den eigenen Namen in ihrer Kolumne zu entdecken. So wertvoll ist Klatsch.
(Am 22.6.2024 in der "NZZ am Sonntag" erschienen. (Bild: Netflix)