Erwachsenenspiele
Miranda Julys erster Roman erzählt von einem erotischen und sehr lustigen Kampf um Selbstwerdung.
Literatur Cheryl Glickman kämpft. Gegen einen Globus hystericus, einen psychosomatisch bedingen Kloss im Hals. Und dafür, dass der 20 Jahre ältere Philipp ihr endlich seine Liebe gestehen möge. Aber statt um ihre Hand bittet Philip Cheryl um den Segen für seine Affäre mit einer Minderjährigen. Die 42-jährige Alleinstehende, die in einem Selbstverteidigungsstudio für Frauen arbeitet, fühlt ausserdem eine merkwürdige karmische Verbindung zu einem Jungen namens Kubelko Bondy, dessen Geist ihr seit 36 Jahren in verschiedenen Kinderkörpern immer wieder erscheint.
Cheryl ist die Protagonistin in Miranda Julys erstem Roman «Der erste fiese Typ». Man kennt und bewundert die Frau, die mit ihren Locken und den grossen blauen Augen aussieht wie ein zu gross geratenes Kind, als Performancekünstlerin und Filmemacherin; für ihr Gefühl, Zwischenmenschliches mit so viel Leichtigkeit und Witz zu sezieren, dass man den zu erwartenden Schmerz gar nicht spürt. July erzählt mit scham- und zügellosem Ton, der das Ernste ins Skurrile kippen lässt, aber ohne je banal oder niedlich zu wirken. Der Roman ist lustig und erotisch zugleich. Er ist in der Ich-Perspektive geschrieben – ein faszinierendes Kammerspiel im Kopf der Protagonistin.
Deren angestrengt störungslos ver- laufendes Leben ist zu Ende, als sie Clee bei sich aufnehmen muss. Clee (20), von schwerfälligem Sex-Appeal, die fleischgewordene Weiblichkeit, erweckt Cheryls verkrustete Sexualität zu neuem Leben. Und sie tritt buchstäblich den für Cheryl alles entscheidenden Kampf los: den zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrem Inneren. Einmal angefangen, kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Es ist aufregend wie ein Coming-of-Age-Roman, nur dass die Protagonistin 42 und nicht 16 ist. Man befindet sich 360 Seiten lang im Kopf von Cheryl. Für Frauen kein Problem. Für Männer ein interessantes Experiment.
Erschienen im Züritipp am 12. November 2015