Es lebe der Trashfilm
Netflix langweilt mit Gefälligkeit, im Kino erinnern Arthouse-Filme an das Schwere im Leben. Nur B-Movies bieten Unterhaltung und humoristische Ablenkung von der verbissenen Ernsthaftigkeit unseres Alltags.
Das Kino ist ein Kind des Jahrmarkts, ein Medium der Attraktionen. Die neue Form der Unterhaltung um 1900 war schnell beliebt beim Publikum und hatte bald einen entsprechend schlechten Ruf. Die bewegten Bilder standen, kaum erfunden, schon im Verdacht, dem Sittenverfall förderlich zu sein.
Sittenverfall wegen des Kinos? Das ist heute so unvorstellbar, dass man sich wenigstens ein bisschen Bedrohung durch Unterhaltung zurückwünscht. Denn das Angebot an Filmen und Serien ist seit einiger Zeit von anbiedernder Harmlosigkeit.
Die Produktionen auf Netflix sehen immer öfter aus wie umgesetzte Resultate ihrer Datenanalysen. Bunt und leicht verdaulich, gleichförmig und glattgeschliffen, oberflächlich divers. Der ganzen Welt gefallen zu wollen, macht langweilig.
Im Kino wiederum werden die Auswirkungen der Pandemie spürbar. Weil die grossen Produktionen fehlen – das Äquivalent zu den Filmchen, die damals in den Schaubuden das Publikum verzückten –, ist das Programm gespickt mit Werken, die es unter normalen Bedingungen kaum auf die Leinwand geschafft hätten.
Die Selbstbespiegelung im Schweizer Dokumentarfilm gemahnt unangenehm daran, wie eng unser Horizont im letzten Jahr geworden ist. Und wie üblich es ist, dass Arthouse- und Independent-Filme von Mühsal und Traumata erzählen und gesellschaftspolitische Debatten widerspiegeln, das fällt jetzt auf, wo es auf einmal so viele davon zu sehen gibt.
Selbst wenn diese Debatten unerlässlich sind und auch wenn manche dieser Filme sehr gut gemacht sind – manchmal braucht man einfach eine Pause. Etwas Ablenkung von der verbissenen Ernsthaftigkeit der Realität, wofür das Kino doch eigentlich so gut geeignet wäre.
Leiden an Bond
Gegen diese Gleichförmigkeit hilft nur eines: Trashfilme streamen. Filme, die entweder mit schlechtem Geschmack kokettieren oder die absichtlich schlecht gemacht sind, mit wenig Budget, aber viel Kreativität, die humoristisch und anmassend statt massentauglich sind. Sie sind wie eine Insel, auf der man sich vor der penetranten Ernsthaftigkeit des Alltags in Sicherheit bringt. Die Realität brandet höchstens an.
Filmo, eine Art Online-Kartei, die streambare Schweizer Filme kuratiert, widmet ihre aktuelle Staffel zehn Exploitation- und Trashfilmen und nennt sie «Swissploitation», manches sind Schweizer Koproduktionen.
«Bonditis» (1967) von Karl Suter gehört zu den lustigsten. In der Bond-Parodie glaubt der biedere Buchhalter Frank Born, er sei 007. Als ihn der Arzt wegen seiner Bonditis zur Kur in die Berge schickt, werden Borns Wahnvorstellungen auf einmal wahr: Er gerät versehentlich zwischen echte Agenten und eine Spionin. Damals war der Film ein Flop und beendete Suters Karriere als Regisseur.
Heute ist er in seiner Naivität höchst unterhaltsam. Man lacht über sexistische Stereotype, ohne die der Original-Bond lange undenkbar war und die einem bis heute auf die Nerven gehen, weil sie ernst gemeint sind. – Nur wenn in einer Sequenz unironisch das N-Wort genüsslich wiederholt wird, zuckt man zusammen, schämt sich für seine Vorfahren und ist froh, nicht mehr im Land seiner Grosseltern zu leben.
Der Inbegriff von Trash sind die folgenden zwei Exemplare: Bei «Jack the Ripper» (1976) mit Klaus Kinski führte die spanische Sexploitation- und Horrorlegende Jess Franco Regie. Er verwandelte den Zürcher Schanzengraben und Gassen der Altstadt ins neblige Londoner Revier des Frauenmörders. Die Requisiten – diese abgehackte Hand – und das Kunstblut erheben keinerlei Anspruch, echt auszusehen.
«Sommersprossen» (1968) von Helmut Förnbacher ist eine Variation des damaligen Hits «Bonnie and Clyde», aber besetzt mit zwei Erwachsenen, die sich benehmen wie beim Bubenstreich, der aus Versehen sehr blutig endet.
Der Schweiz fehlt der Horror
Filmo nennt seine Reihe zwar Swissploitation, aber nicht alles, was hier läuft, sieht billig aus. Weniger zu Trash als vielmehr zum Genrefilm gehört der Science-Fiction-Thriller «L’inconnu de Shandigor» (1967) von Jean-Louis Roy, der damals in Cannes aufgeführt wurde.
Roy zeigt in expressionistischen Schwarz-Weiss-Bildern eine fast menschenleere und futuristische Schweiz, in der ein irrer Nuklearwissenschafter eine Waffe entwickelt hat, die Atombomben entschärft. Er will seinen «Annulator» geheim halten, aber bald kommen ihm gleich mehrere Geheimdienste auf die Schliche. Serge Gainsbourg spielt eine Nebenrolle, wobei es so aussieht, als ob er nur geblieben wäre, um sein Chanson «Bye Bye Mister Spy» vorzutragen.
Ivan Engler, der Regisseur von «Cargo» (2009), einem der wenigen Schweizer Science-Fiction-Abenteuer, beklagte einmal den Mangel an Genrefilmen in der Schweiz. Filmo hat ein paar von den wenigen in die Auswahl aufgenommen: den Apokalypsenfilm «Hell» (2011) von Tim Fehlbaum oder die surreale Komödie «Der Sandmann» (2011) von Peter Luisi.
Jetzt, da wir inmitten dieser grossen Gereiztheit leben, wo Provokation feige über Social Media erfolgt, aber sonst nicht mehr vertragen wird und wo sogar das Schweigen missverstanden wird, jetzt müsste eigentlich die Zeit sein für Genre- und Trashfilme. Für humoristische Grenzüberschreitungen und Exzesse des schlechten Geschmacks.
Radu Jude, Regisseur von «Bad Luck Banging or Loony Porn» (2021), einem der verrücktesten und radikalsten Filme seit langem, vergleicht die Leinwand mit dem Schild der Athene aus der Medusa-Sage: Sie zeigt die Schrecken der Welt als Reflexion, weil wir diese direkt nicht ertragen würden.
Zuerst erschienen am 15.5.2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Filmo)