Filmemachen lernt man nicht in der Schweiz

Hinter jedem guten Film steht ein gutes Drehbuch. Bis auf Simon Jaquemet scheint das hierzulande aber niemand zu wissen. Besser als sein Jugenddrama «Chrieg» war Deutschschweizer Kino selten.

Hättsch au nöd tänkt, dass es mal so ändet ...

Nei. Jetz wär de Momänt, zom rechtig eis go suufe. Isch doch wahr. Alles, wonich druuf vertraut han, liit am Bode. D’Swiss­air, mini Beziehig, mini Tröim ... (Sie schluchzt) Würsch mi aso bitte in Arm näh?

(Er nimmt sie in den Arm.)

Sorry.

Ich muess sorry säge, Susanne.

 

So wie in Michael Steiners «Grounding» (2006) klingt es fast immer, wenn Deutschschweizer Kino machen, denn zumeist ist alles entweder langweilig oder unbeholfen, was hier gedreht und produziert wird. Die Filme drücken sich um die Darstellung von Krisen und Konflikten oder nehmen sich ihrer bloss in satirischer oder parodistischer Form an. Sie verkaufen den Zuschauer für dumm, weil sie immer alles erklären. Mit Dialogen, die nach Dorftheater klingen, aber nicht so, wie Menschen normalerweise miteinander reden.

Und jetzt kommt der junge Simon Jaquemet mit seinem Erstling «Chrieg» und zeigt allen anderen, wie man es macht.

Förderung des Mittelmasses

Dass es in der Deutschschweiz seit Jahrzehnten kaum mehr aufregende Filme gibt, liegt einerseits an der Subventionsmentalität. Seit dem Wandel der Förderstrukturen in den 90er-Jahren und der Totalrevision des Filmgesetzes 2002 verlangt der Bund nach Filmen, die kommerziellen statt kulturellen Ansprüchen genügen. Man will kein künstlerisch anspruchsvolles Kino mit internationaler Strahlkraft mehr, sondern Filme, die ein breites einheimisches Publikum ansprechen. – Die Subventionen sollen sich rentieren. Das bedeutet: Unkonventionelle oder radikale Stoffe haben bei den Förderstellen wenig Chancen. Aktuellstes Beispiel: «Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» von Stina Werenfels. Der Film über das sexuelle Erwachen einer Behinderten erhielt von Bund und Kanton keine Unterstützung. Werenfels musste nach Berlin ausweichen. Jetzt, da der Film Preise gewinnt, bereuen die Förderstellen ihren Entscheid. Aber das eingereichte Drehbuch habe damals nicht überzeugt, heisst es.

Das Drehbuch ist das andere grosse Problem. Es gibt in der Schweiz nur wenige Autorinnen und Autoren, die das Handwerk des Drehbuchschreibens beherrschen. Den meisten fehlt die Ausbildung. Während man sich in Deutschland, Österreich oder Dänemark seit Jahren zum Drehbuchautor ausbilden lassen kann, gibt es in der Deutschschweiz erst seit gut zwei Jahren qualifizierte Drehbuchlehrgänge. Anderen fehlt es wegen des kleinen Marktes an der nötigen Erfahrung. Oder an Talent.

Simon Jaquemet, 36, Regisseur des mehrfach preisgekrönten und vieldiskutierten «Chrieg», hat Talent. Das fiel Christian Davi, Mitinhaber der Produktionsfirma Hugofilm, schon auf, als er 2005 Jaquemets Diplomfilm «Die Burg» sah. «Von da an hatten wir Simon auf dem Radar», sagt er. Christian Davi hat die Entwicklung von «Chrieg» von Anfang an unterstützt. Er produziert gern Erstlingsfilme. Aber solche Projekte brauchen Mut. Man kennt die Filmemacher noch nicht, sie sind unerfahren, vieles kann schiefgehen. Mit «Chrieg» ging nichts schief.

Der Film handelt vom 16-jährigen Matteo (Benjamin Lutzke), der nicht weiss, was er mit seinem Leben anfangen soll. Seine Eltern halten ihn für einen Querulanten, der auf den rechten Weg zurückgebracht werden muss. Sie schieben ihn ab auf eine Alp, wo er durch harte Arbeit zur Besinnung kommen soll. Was ihn dort erwartet, ist aber nicht Arbeit. Es sind zwei Jungen, Anton und Dion, und das Mädchen Ali, die noch viel schlimmer sind als er.

Bei Hugofilm mochte man die Prämisse, dass ein Jugendlicher ein Time-out braucht. Man fand die Idee stark, dass eine Figur über die Erfahrung von Gewalt eine positive Entwicklung durchmacht. Dass es kein Happy End gibt. Man traute Jaquemet zu, einen Film mit Jugendlichen zu machen, weil er für seine bisherigen Kurzfilme oft mit Jugendlichen gearbeitet hatte. «Er kennt dieses Milieu. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um eine Geschichte zu erzählen. Und Simon hat etwas zu erzählen», sagt Christian Davi.

Trotz des schwierigen Stoffs bekam Simon Jaquemet früh Fördermittel für die Drehbuch- und Projektentwicklung: 20 000 Franken Treatmentförderung vom Migros-Kulturprozent, 5000 davon kamen von Hugofilm. 45 000 Franken aus dem Gefäss Drehbuch PLUS vom Bundesamt für Kultur, 60 000 Franken von der Zürcher Filmstiftung. Von MEDIA, einem Filmförderungsprogramm der EU, kamen 54 000 Franken. Aus heutiger Sicht war MEDIA ein Glücksfall: Mit der Annahme der SVP-Masseneinwanderungsinitiative wurde das Abkommen der Schweiz mit der EU sistiert: Schweizer Filmschaffende können sich bis auf Weiteres nicht mehr an europäischen Filmförderprogrammen beteiligen.

«Wenn du in der Schweiz die Fördergelder mal hast, kannst du in Ruhe arbeiten», sagt Jaquemet. Die Drehbuchförderung reicht für ein bescheidenes Leben, gejobbt hat er trotzdem, «man kann ja nicht immer nur schreiben». Jaquemet sass während drei Jahren an seinem Stoff, Christian Davi war präsent, liess ihm aber viel Freiheit. «Christian war sehr offen, hat seine Meinung gesagt, aber nie, wie ich es machen soll. Er setzt auf die Individualität seiner Autoren statt auf scheinbar bewährte Rezepte und Methoden», sagt Jaquemet dankbar. Christian Davi wiederum lobt den Regisseur dafür, dass er sich nicht zu schade gewesen sei, nochmals zur Schule zu gehen.

Der ganze Arthouse-Kuchen

Zuerst, das war 2010, nahm er mit Unterstützung des Migros-Kulturprozents an einer Drehbuch-Masterclass teil. Kurz vor Drehbeginn konnten Regisseur und Produzent ihr «Chrieg»-Projekt an der Berlinale vorstellen, am «Talent Project Market» im Rahmen der «Berlinale Talents». Zugelassen werden nur die Besten. Wer es schafft, findet sich am Ende des Workshops auf einer Bühne wieder, unter sich einen Saal voll wichtiger Leute aus dem Filmbusiness: Vertreter von Festivals, wichtige Verleiher und Produzenten. «Der ganze Arthouse-Kuchen», wie Jaquemet es nennt. Für Christian Davi war die Teilnahme an solchen internationalen Workshops genauso wichtig wie für Simon Jaquemet. So konnte er schon weit im Voraus auf «Chrieg» aufmerksam machen. «Wenn man bei einem ersten Film erst mit der Positionierung anfängt, wenn der Film als Rohschnitt vorliegt, ist es zu spät», sagt er.

Am prägendsten für Jaquemet war die Teilnahme am «TorinoFilmLab». Vermutlich verdankt ihm «Chrieg» einen Grossteil seiner Qualität und seines Erfolgs: beim Publikum wie auch bei den Förderstellen, als es darum ging, Geld für die Herstellung zu bekommen. Das Torino-Lab ist ein internationaler Workshop für junge Talente, die ihren ersten oder zweiten Film realisieren. Finanziert wird es vom italienischen Kulturministerium, der Kulturförderung der Region Piemont und der Stadt Turin. Auch wichtige internationale Filmfestivals wie San Sebastián oder Cannes sind beteiligt. Es gibt jeweils Hunderte von Bewerbern aus aller Welt, nur ein Bruchteil schafft die Aufnahme. Im ersten Teil beschäftigen sich die Jungfilmer in drei übers Jahr verteilten Workshops mit der Stoffentwicklung, im zweiten Teil neben der Projektentwicklung auch mit Herstellung und Produktion. Man arbeitet in kleinen Gruppen an den Stoffen, Script-Consultants beraten. Simon Jaquemets Gruppe wurde von der Schwedin Marietta von Hausswolff von Baumgarten betreut, «eine crazy Adelige, die Drehbücher schreibt und, soweit ich das mitbekommen habe, eine ziemlich wilde Jugend hatte», sagt er. Er erinnert sich an den ersten Satz, den sie zu ihm gesagt hat: «Just write it and shoot it!» Mit einer so positiven Grundhaltung in den Stoffentwicklungsprozess einzusteigen habe ihm sehr viel Energie und Motivation gegeben.

Ein internationaler Workshop wie das Torino-Lab hat wenig zu tun mit dem, was Jaquemet mit einem früheren Projekt an einem Schweizer Workshop erlebt hatte: «Dort wurde das amerikanische Schema gepredigt, eine rigide Drei-Akte-Struktur. Ich kam nicht zurecht mit dem Ansatz, dass man einem Projekt ein vorgefertigtes Schema aufdrücken will. Ich treffe immer wieder auf Filmemacher, die glauben, wenn sie Regeln genau umsetzen und dem System folgen, dann werde der Film gut. Aber das ist nicht so.»

Jaquemets Stoff wurde in der Torino-Gruppe kontrovers diskutiert. Das Feedback seines chilenischen Kollegen mochte er besonders: «Er hat meine vier Jugendlichen mit einer Hundemeute verglichen. Der neue Hund, der dazukommt, wird geplagt, bis er in der Hierarchie aufsteigen kann. Das habe ich beim Schreiben im Kopf behalten.»

Etwas anderes, das ihm Eindruck machte: «Fast niemandem am Torino-Lab wurde das Drehbuch finanziert. Für die meisten ist klar, dass man das Buch zum Erstlingsfilm in seiner Freizeit schreibt. Im Ausland bedeutet Filmemachen oft Armut. Das Risiko, das man auf sich nimmt, ist viel grösser als hier.» Christian Davi hat die Zahlen dazu: In der Schweiz bekommt ein Autor, je nach Erfahrung, zwischen 50 000 und 80 000 Franken für ein Drehbuch. In Deutschland wären es etwa 18 000. «Für Unerfahrene. Erfahrene wiederum können in Deutschland viel besser verdienen als hier», sagt er.

Im zweiten Teil des Torino-Labs betreute unter anderem der rumänische Autor, Regisseur und Drehbuchberater Razvan Radulescu Jaquemets Gruppe. Radulescu gehört zu den führenden Figuren der «Neuen Rumänischen Welle». Davi war manchmal dabei in den Workshops: «Von Radulescu habe ich etwas Wichtiges gelernt: Wenn du als Autor über die Motivation einer Figur nachdenken musst, hast du den Fehler bereits gemacht – dann steht die Figur nicht im richtigen Konflikt oder in der richtigen Konstellation. Wenn alles stimmig ist, muss die Figur handeln, wie sie es tut, sie kann gar nicht anders.»

Jaquemet sagt, so technisch denke er gar nicht beim Schreiben. Er arbeitet intuitiv. «Manchmal machen meine Figuren Dinge, von denen ich gar nicht weiss, warum sie sie tun.» Die Szene, in der Matteo mit seinem kleinen Bruder in den Wald verschwindet, ist so eine. «Es ist schwierig nachzuvollziehen, warum Matteo das macht. Ich könnte es nicht rational erklären. Aber das Gefühl sagte mir, dass es für den Handlungsbogen und für die Figurenzeichnung sinnvoll war. Solche Momente sind wichtig, um Figuren real zu machen. Man beobachtet im echten Leben ja auch Menschen bei Handlungen, die man nicht versteht. Oder tut selbst Dinge, die man sich nicht erklären kann.» Darum findet er es wichtig, dass solche Szenen im Film drinbleiben. «Mancher Drehbuchberater würde das rausstreichen, weil es angeblich nichts mit der Geschichte zu tun hat. Dabei ist es für die Stimmung wichtig.»

Ein Film über Gewalt – das sollen wir fördern?

Die vielen guten Rückmeldungen von renommierten Filmemachern und Drehbuchberatern am Torino-Lab und in Berlin dürften «Chrieg» den Weg durch die Schweizer Förderstellen geebnet haben. Denn der Stoff, den Jaquemet und Davi dem Bundesamt für Kultur und der Zürcher Filmstiftung auf den Tisch legten, gleicht wenig dem, was sonst gern gefördert wird. Es geht um Gewalt. Die Gewalt wird nicht verurteilt. Es wird kaum geredet und wenig erklärt. Das Ende ist offen.

«Bei den Förderstellen hiess es dann schon: Du musst doch als Regisseur einen Standpunkt vertreten. Du musst das, was diese Jugendlichen tun, verurteilen. Es braucht ein Happy End», erinnert sich Jaquemet. Aber das interessiert ihn nicht. Er will, dass etwas stehen bleiben kann, wie es ist, ohne dass er die Moral von der Geschichte mitliefern muss. «Mich interessieren ja auch die Filme, wo ich selber meine Schlüsse ziehen muss.» Solchen Forderungen von Kommissionen zu begegnen ist nicht einfach für Jungfilmer, die zum ersten Mal ein Projekt vorstellen und verteidigen müssen. Aber Hugofilm stand hinter Jaquemet, und schliesslich wurde ihnen der angefragte Förderbeitrag gesprochen: 700 000 vom BAK und 400 000 von der Zürcher Filmstiftung. «Ich weiss noch, dass das BAK als einzigen Negativpunkt angeführt hatte, es sei nicht immer klar ersichtlich, ob der Film gewaltverherrlichend sei. Das hat mir gefallen. Denn darum geht es mir ja», sagt Jaquemet und grinst.

Dann ging es ans Casting. «Es war die Hölle, es dauerte Monate», sagt Christian Davi. Hugofilm hat 65 000 Franken dafür ausgegeben, normal wären 20 000. Zur Unterstützung hatten sie die Casting-Directorin Lisa Olàh aus Wien engagiert. «Wir hatten den Anspruch, möglichst authentische Darsteller zu finden», sagt Davi. Bis auf Ella Rumpf, die Ali spielt, fiel die Wahl auf lauter Laien. Die Ausgebildeten waren weniger überzeugend. Den Hauptdarsteller, den damals 16-jährigen Benjamin Lutzke, hat Simon Jaquemet am Zürcher Hauptbahnhof entdeckt.

Bemerkenswert ist, wie die Darsteller das Drehbuch zu beeinflussen begannen. Mit ihren Erfahrungen, von denen sie erzählten – mancher hat eine ähnlich schwierige Vergangenheit wie seine Filmfigur –, aber auch mit ihrer Sprache: «Ich habe ihre Gespräche manchmal aufgezeichnet, sie transkribiert und gemerkt: Ah, stimmt, so spricht man ja in der Realität», sagt Jaquemet. Die grosse Authentizität der Darsteller und die niemals nach Drehbuch klingenden Dialoge gehören zu den grossen Stärken von «Chrieg».

Der Dreh dauerte 36 Tage. «Es war gut, dass nicht immer mit dem ganzen Team gearbeitet werden musste, das kostet weniger – natürlich hat man immer zu wenig Geld», sagt Christian Davi. Es half, dass die junge Crew noch nicht in die hohen Lohnklassen gehörte. Und dass alle auf zehn Prozent ihres Gehalts verzichtet haben. Aber sie mussten trotzdem eine Zweiteingabe machen. Die Business Location Südtirol sprach ihnen rund 185 000 Euro. Unter der Bedingung, dass ein Teil von «Chrieg» in Südtirol gedreht und dort Geld ausgegeben wird. «Sie gaben uns ihre Steuergelder, also wollten sie auch was dafür haben», sagt Davi. Die Szenen in der Stadt, als die Teenager einen Porsche abfackeln und eine Villa zerstören, wurden dort gedreht. Das Schweizer Fernsehen war mit 200 000 Franken mit einem verhältnismässig kleinen Betrag dabei. «Was ich gar nicht schlecht finde», sagt Christian Davi. «Die Redaktion hätte sonst sicher mehr reingeredet, damit der Film ‹Primetime-tauglicher› würde.»

Insgesamt hat «Chrieg» 2 Millionen gekostet. «2,3 wären ideal gewesen», sagt Davi. Aber viel besser hätte der Film kaum mehr werden können. «Chrieg» ist ein herausragender Erstlingsfilm, eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Filmwelt. Das liegt einerseits an der schauspielerischen Leistung von Benjamin Lutzke, Ella Rumpf, «Ste» und Sascha Gisler. Es liegt aber auch an Simon Jaquemets Talent und Kompromisslosigkeit im Erzählen. Er traut dem Zuschauer etwas zu. Und er nimmt seine Figuren ernst. Er zeigt sie, wie sie sind, er erforscht ihr Verhalten und deutet nichts. Er geht nicht zimperlich mit ihnen um, sondern führt ihre Probleme, ihre Dummheit und Verzweiflung vor. Man kann unmöglich zwischen Gut und Böse oder Richtig und Falsch unterscheiden, man pendelt stattdessen zwischen Sympathie und Abscheu. «Chrieg» gibt sich nicht gesellschaftskritisch, sondern verzichtet darauf, eine Haltung zu dem oft fragwürdigen Verhalten der Jugendlichen einzunehmen. Das ist gut so. 

 

Erschienen in DAS MAGAZIN des Tages-Anzeigers am 21. März 2015

Bild: Véronique Hoegger