«For Sama»: Überleben in Aleppo
Waad al-Kateab dokumentiert in «For Sama» das unvorstellbare Grauen in Aleppo. Aber ihr Erstling ist auch ein Film der Hoffnung auf ein Leben nach Asad.
Wer hat Sama?», hört man die Stimme von Waad al-Kateab, während sie filmt, wie die Mitarbeiter des letzten Spitals in Aleppo sich im Keller in Sicherheit bringen. «Sama ist hier», antwortet eine Stimme aus dem staubigen Halbdunkel. Das Kleinkind liegt auf dem Schoss einer Freundin der Mutter und trinkt seine Milch. In unmittelbarer Nähe schlagen Granaten ein.
Die Belegschaft des Spitals harrt seit Monaten im belagerten Aleppo aus und versucht so viele Leben wie möglich zu retten. Die 28-jährige Waad al-Kateab fing 2012 an, mit dem Handy zu dokumentieren, wie die Studentinnen und Studenten in den Strassen von Aleppo gegen das Regime von Bashar al-Asad demonstrierten.
Die frühesten Bilder der Autodidaktin zeigen hoffnungsvolle junge Menschen, die eine demokratische Zukunft fordern. Diese Bilder schneidet al-Kateab gegen mit solchen von immer mehr Zerstörung, Angst und Tod, seit 2013 der «Krieg Asads gegen die Bevölkerung» angefangen hat, wie al-Kateab das nennt, was die Weltöffentlichkeit als Bürgerkrieg bezeichnet. Ihr Film, der diesen Mai in Cannes als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, ist ein Zeitdokument, komponiert als Brief an ihre Tochter, die während der Belagerung Aleppos geboren wurde.
«Du sollst verstehen, warum dein Vater und ich damals so gehandelt haben. Wofür wir gekämpft haben», hört man ihre Stimme aus dem Off. Al-Kateab erzählt Sama davon, wie sie und ihr Mann Hamza sich kennengelernt haben. Als sie heiraten, sieht man sie und ihre Freunde lachen und tanzen, später filmt sie sich, wie sie im Spiegel den Satz übt: «Hamza, ich bin schwanger.»
Spielen im ausgebrannten Bus
Hamza al-Katib hatte, kaum dass er mit seinem Medizinstudium fertig war, auf eigene Faust und mit Geld aus der Bevölkerung, in Ost-Aleppo das Spital aufgebaut, in dessen Räumlichkeiten der grösste Teil von «For Sama» spielt. In den Zimmern sind Verzweiflung und Glück, Panik und Hoffnung, Leben und Tod so nahe beieinander, dass die Regisseurin sie manchmal in derselben Einstellung einfängt: Einmal zeigt al-Kateab, wie die Ärzte an einer hochschwangeren und schwer verwundeten Frau einen Notkaiserschnitt vornehmen, Mutter und Kind überleben.
Ein andermal schwenkt die Kamera von der schlafenden Sama auf einen Buben, der auch da liegt, aber seine Augen nie mehr aufmachen wird. Die Szenen, in denen verwundete Kinder sterben, sind am schwersten zu ertragen. Und es sind so viele.
2016 fing Waad al-Kateab an, ihre filmischen Dokumentationen dem britischen Nachrichtensender Channel 4 zuzuspielen. Zusammengefasst unter insidealeppo.com, erreichten diese fast eine halbe Milliarde Zuschauerinnen und Zuschauer. Waad al-Kateab bekam 24 Auszeichnungen dafür, dass sie der Welt Bilder vom Leid, aber auch der nie aufgegebenen Hoffnung von Aleppos Zivilbevölkerung vermittelt. Sie zeigt Kinder, die in einem ausgebrannten Bus spielen und diesen anmalen. Ihre Nachbarin, die so oft wie möglich fröhlich ist – auch für ihren kleinen Sohn, der seine Freunde vermisst, die mit ihren Familien geflüchtet sind. Sie zeigt ihre eigene Freude über ihr Haus, das sie und Hamza nach der Hochzeit beziehen, die Bäume, die sie pflanzen. Und immer wieder sehen wir Sama, die selbst bei Angriffen nie weint. Ist es, weil sie die Welt nicht anders kennt? Die Mutter macht sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Tochter.
Und ihre eigene? «Natürlich haben wir uns gefürchtet, wenn die Bomben einschlugen, aber die Hoffnung, etwas bewirken zu können, war grösser als die Angst vor dem Tod», sagt al-Kateab im Gespräch. Was sie zeigt, ist so persönlich und auf so brutale Art intim, dass man sich manchmal fast schämt, hinzuschauen. «Sie müssen hinsehen», sagt sie. «Zu zeigen, was der Bevölkerung angetan wird, ist unser einziger Weg zu kämpfen.» Sechs Millionen Menschen sind aus Syrien geflüchtet, fast eine Million wurde getötet, aber die Welt schaue weiterhin zu. «Die Regierungen sagen, sie könnten nichts tun, weil Russland im Sicherheitsrat sitzt.»
Die Familie al-Kateab blieb bis zum letztmöglichen Zeitpunkt in ihrer Stadt. Als sie gezwungen wurde, ins Exil zu gehen – sonst hätten die Russen sie getötet –, nahm die Regisseurin eine Pflanze aus ihrem Garten mit, ein Stück Aleppo. Über die Türkei reiste die Familie mit einem Visum weiter nach England, wo Waad al-Kateab heute weiter für Channel 4 arbeitet.
Die Diktatur zerstören
Sie hat ihr gesamtes Filmmaterial nach England gebracht, wo sie die Hunderten Stunden Material zusammen mit dem britischen Filmemacher Edward Watts geordnet hat. «Ich brauchte jemanden, der mit Distanz auf meine Geschichte blickt», sagt sie. «Ich selbst konnte sie nicht verstehen, obwohl ich sie ja selbst erlebt habe.» Und obwohl es ihre eigene Geschichte sei, möchte sie, dass das Publikum versteht, dass Hunderttausende von Syrerinnen und Syrern dasselbe erlebt haben.
Inzwischen hätten sich die letzten Rebellen nach Idlib zurückgezogen, sagt sie. «Dort geschieht jetzt, was wir in Aleppo überlebt haben.» Die genaue Situation kennt sie nicht. Auch nicht jene in Aleppo, das jetzt vom Regime kontrolliert wird. «Da, wo wir gelebt haben, kehren manche in ihre Häuser zurück. Aber wir haben keinen direkten Kontakt, weil es zu gefährlich wäre für diese Menschen, mit uns zu kommunizieren, die im Stadtteil der Rebellen gelebt haben.»
Waad al-Kateab hofft, mit ihrer Arbeit dazu beizutragen, dass Asad eines Tages zur Rechenschaft gezogen wird. Obwohl sie jetzt in London lebt, merkt man ihr an, dass der Kampf für Gerechtigkeit in ihrem Land für sie nicht zu Ende ist. «Die Diktatur muss zerstört werden, damit etwas Neues entstehen kann. Das braucht Zeit und Leute, die aufklären, weil das Regime Informationen zu unterdrücken versucht.» Darum ist «For Sama» für sie nicht nur ein Film, sondern ein Mittel, um Veränderungen anzustossen.
Erschienen am 4.10. 2019 in der «NZZ am Sonntag»
(Bild: Trigon)