Frauen sind nicht nett
In «Tár» scheitert eine geniale Dirigentin an ihrem Ego, weil sie ihre Macht missbraucht. Nina Hoss, die darin mitspielt, findet es gut, dass jetzt über böse Frauen im Film gestritten wird.
«Tár» ist ein Rätsel, ein Vexierspiel aus Fiktion und Realität. Man muss sich dieses monumentale Werk von Todd Field mehrmals ansehen, um die Fährten zu lesen, die sowohl zum Wesen dieses Thrillers wie auch jenem der grossen Dirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett) führen.
Und man muss ihn sich auch deshalb mehrmals anschauen, um den Gründen auf die Spur zu kommen, warum dieser Film sein Publikum jetzt so aufwühlt, manche gar in moralisierenden Furor versetzt.
Nina Hoss, die darin Sharon spielt, die Ehefrau der Dirigentin, sagte im Gespräch an der nun zu Ende gegangenen Berlinale: «Dieser Film hat im Kern etwas Elektrisierendes. Man muss sich mit diesen Figuren auseinandersetzen, weil solche Menschentypen einem auch in der Welt begegnen. Oder weil man vielleicht selbst so sein will. ‹Tár› erzählt vom Wesen des Menschen. Ich finde es immer so erstaunlich, dass wir einfach davon ausgehen, dass wir nur nach dem Guten streben.»
Lydia Tár ist nicht gut. Sie ist eine Besessene, die von ihrem Orchester und auch von ihren Studentinnen und Studenten bedingungslose Unterwerfung unter das Werk erwartet, die Auflösung des Selbst im Kunstwerk. Die das nicht zu leisten bereit sind, straft sie mit Verachtung und schimpft sie «Roboter». Sie selbst verfängt sich in ihrem eigenen Ego, weil sie in ihrer eigenen Realität nach eigenen Regeln leben zu können glaubt.
Wäre sie ein guter Mensch, wäre sie nicht wie die realen Dirigenten Daniel Barenboim oder Herbert Karajan zum international bewunderten Star geworden. Jetzt arbeitet sie mit ihren Philharmonikern auf eine Live-Aufnahme von Mahlers 5. Symphonie hin. Es ist der Edelstein, der in ihrer persönlichen Ruhmeskrone noch fehlt.
Sharon spielt die erste Geige, ist also Konzertmeisterin in Társ Orchester. Aber zu Hause kommt sie stets an zweiter Stelle. Obwohl Sharon es ist, die Lydias Leben organisiert, die Ehe am Leben erhält, indem sie über Lydias Affären hinwegsieht, sich um die gemeinsame kleine Tochter kümmert, muss sie in deren Schatten leben. Sie akzeptiert es, aber auch aus Eigennutz.
«Sharon ist eine phantastische Musikerin, sonst sässe sie da jetzt nicht», sagt Hoss, die für jede ihrer Figuren eine komplexe Hintergrundgeschichte entwickelt. «Aber sie befindet sich in einem Leben, in das sie allein nicht hingekommen wäre.» Die Frage sei, wie Menschen sich verhalten, die mit solchen Genies zusammenleben. Inwieweit sie selbst Teil des Machtsystems seien.
Frauen müssen lieb sein
Lydia hat sehr viel Macht. Sie nutzt sie aus. Ja, sie missbrauche sie, wie ihr Studentinnen und Studenten vorwerfen, nachdem der Selbstmord einer von Lydias ehemaligen Schülerinnen publik wird. Lydia versucht, E-Mails zum Verschwinden zu bringen, die belegen sollen, dass sie Krista in den Tod getrieben habe, die auch ihre Liebhaberin war. Aber es ist zu spät. Das Genie, im Zenit seines Schaffens, strauchelt und wird fallen.
Als die Vorwürfe auftauchen, weiss Sharon: Jetzt wird es gefährlich in der Beziehung. «Sie muss diese beenden, weil sie sonst beruflich mit in den Strudel hineingerät», sagt Hoss. «Aber sie hat zu hart für ihre Position gearbeitet. Also rettet sie sich.» Sie verlässt Lydia. Auch sie stellt ihre Karriere über die Liebe. Auch sie ist nicht nett.
Je grösser Lydias Angst vor dem Kontrollverlust wird, desto mehr erhitzt sich ihr Geist – und Todd Fields Erzählweise wird im guten Sinne unzuverlässig. Lärm beginnt die Ruhe zu stören, die Lydia immer sucht. Doch gibt es diese Geräusche wirklich, die sie hört? Die Schreie im Park? Das Metronom, das nachts zu schlagen anfängt? Wer ist diese rothaarige Frau, die Lydia verfolgt?
Bilder, die nicht sein können, dringen in die strenge, kühle und hochpräzise Komposition ein, wie Lydia Tár selbst sie vom Regisseur Todd Field verlangen würde. Metaphern für ihr innerliches Auseinanderfallen durchbrechen die makellose Oberfläche, Farben klecksen auf die bisher dominierende Palette aus den Nicht-Farben Weiss, Grau und Schwarz.
Spiel mit Realität und Fiktion
Todd Field hat diese Rolle extra für Cate Blanchett geschrieben, und man kann sich schwerlich jemand anderen vorstellen, der diese Dirigentin mit gleicher gebündelter Kraft und oberflächlicher Härte spielen könnte. Field erzählt von einer fiktiven Person, die aber so echt wirkt, dass Leute nach dem Film googeln: «Wer ist Lydia Tár?»
Zugleich arbeitet Field mit Elementen der Realität: Adam Gopnik vom «New Yorker» interviewt Tár in der Eröffnungssequenz als er selbst. Cate Blanchett dirigiert mit der Dresdner Philharmonie ein reales Orchester.
Und jetzt kollidiert diese Fiktion mit der Realität. Die Dirigentin Marin Alsop zeigte sich verständnislos dafür, dass man, wenn schon eine Frau so eine geniale Künstlerin spielen dürfe, man sie als toxische Figur zeige. Manche nennen «Tár» antifeministisch oder frauenfeindlich. «Als Frau fühle ich mich davon leicht angegriffen», sagt Nina Hoss. «Weil wir nicht einfach nett sind. Das anzunehmen, ist doch weltfremd.»
Die Ironie: Todd Field, Cate Blanchett und Nina Hoss haben es mit ihrem Film darauf angelegt, solche Diskussionen zu provozieren. Dass sie es wagen, ist bemerkenswert. Und dass so ein Film überhaupt produziert wird, ist angesichts der verunsicherten Industrie, die lieber nichts riskiert, fast ein Wunder.
Dass Field die Reizthemen Cancel-Culture und Identitätspolitik in einer verhältnismässig kurzen Sequenz so nüchtern und dadurch provokativ als Feinde der Kreativität darstellt, verblüfft. Weil man sich mittlerweile so daran gewöhnt hat, belehrt zu werden von Filmen, die alles richtig machen wollen, statt Fragen zu stellen, auf die es keine simple Antwort gibt.
«Tár» ist weder frauenfeindlich noch ein Cancel-Culture-Film, sondern ein brillant konstruiertes Werk über Machtmissbrauch. Weil eine Frau ihn begeht, schärft der Thriller den Blick auf dieses Thema noch einmal, dessen Komplexität durch die Omnipräsenz in manchen Feuilletons und auf Social Media zum Zweck der Aufmerksamkeitsgenerierung zu verflachen droht.
Dass die Diskussion um «Tár» jetzt in alle kontroversen Richtungen geht, finde sie gut, sagt Hoss. «Das Entscheidende ist, dass man miteinander ins Gespräch kommt.» Das sei der Sinn von Kunst. Sie müsse Fragen stellen und gedanklich provozieren. Sie müsse sagen: Sei dir nicht zu sicher, und uns daran erinnern, wie kompliziert Menschen sein können. «Dieser Wahrheit muss man ins Auge sehen. Das ist aufregend und grässlich zugleich», meint Hoss. Aufregend und grässliche zugleich – das ist auch Lydia Tár.
Am 25. 2. 2023 in der «NZZ am Sonntag» erschienen. (Bild: Focus Features)