Frauen werden die Rettung sein

Filmfestival Locarno: Abseits der Leinwände finden aufschlussreiche Diskussionen statt. Über Männer, die sich im Kreis drehen und Frauen, die vorpreschen.

Gestern Nachmittag im Hotel Belvedere, etwa zur gleichen Zeit, als Isabelle Huppert mit ihrer Entourage im Speisesaal nebenan zu Mittag ass, haben Produzenten und Verleiher in einem Nebenzimmer wieder einmal über die Probleme mit dem Schweizer Film diskutiert.

Trotz deutlich mehr Fördergeldern und einem Vielfachen an produzierten Filmen liege der Marktanteil immer noch nur bei knapp 6 Prozent, seit Godards «Eloge de l'amour» (2001), majoritär eine Schweizer Produktion, sei nie mehr eine vergleichbare Produktion im Wettbewerb von Cannes gelaufen. Es sehe so aus, als ob man sich damit abgefunden habe, dass man international keinen Erfolg haben könne, fasst mein Kollege Christian Jungen die Misere an der Veranstaltung «Step In» der Industry Days zusammen. Er sitzt auf dem Podium mit Caroline Brabat, Produzentin bei Telefilm Canada, und Bero Beyer, Produzent und Direktor des Filmfestivals Rotterdam. Beyer spricht davon, wie die Niederlande ihren desolaten Filmmarkt seit den 90er-Jahren auf Vordermann gebracht haben, findet aber: «Wir produzieren immer noch zuviele Filme.» Das Rezept sei: Breit fördern, wenig realisieren. «Nicht jedes Projekt, das zu Beginn Fördergelder bekommen hat, muss um jeden Preis realisiert werden. Wenn es sich im Verlauf als zu schwach erweist, muss man den Mut haben, es sterben zu lassen.» – Man konnte fast sehen, wie die Produzenten in den vorderen Reihen sich bei diesen Worten verkrampften.

Christian Jungen legte nach und warf manchen Produzenten mangelnde Professionalität vor. Er erinnere sich, als Kommissionsmitglied beim Bund immer wieder mit Personen zu tun gehabt zu haben, die keinerlei Ahnung davon hatten, wie man ein Budget erstelle. Das wollen Produzenten nicht auf sich sitzen lassen, schnell schiebt man die Schuld auf die Filmschulen: Es gebe vier davon, jede produziere pro Jahr 30 Abgänger und Abgängerinnen, was ja wirklich zu viel sei und dann glauben die auch noch alle, das Diplom gebe ihnen das Recht auf Förderung. – Das mag ja alles stimmen, aber ich mag es nicht mehr hören und schreibe auf einen Zettel, den ich meiner Begleiterin zustecke: «Die diskutieren seit Jahren lieber das Problem, statt nach Lösungen zu suchen. Eine Lösung müsste radikal sein. Radikalität liegt uns Schweizern leider nicht.»  

Aber vielleicht braucht es gar keine Brachialmethoden. Vielleicht reicht auch schon Fairness: denjenigen gegenüber, die seit Jahren nur einen Bruchteil der Fördergelder bekommen und entsprechend weniger Filme realisieren. Den Frauen. Dieser Gedanke drängte sich heute Morgen auf, als die Gründerinnen von SWAN («Swiss Women’s Audiovisual Network») beim gemütlichen Frühstück von den sehr ungemütlichen Ergebnissen der 2015 durchgeführten Focal-Studie erzählt haben. Wer sich die Zahlen anschauen möchte, die einen – zumindest als Frau – wütend machen: Hier.

Seit die Focal-Studie 2015 veröffentlicht wurde, ist bekannt, was man bisher eher vermutet hatte. Um nur wenige Zahlen zu nennen: Frauen erhielten in den letzten zwei Jahren 40 Millionen Franken weniger Fördergelder als Männer. 2014 haben die Männer 72 Prozent aller Filme mit 78 Prozent des gesamten Förderbudgets realisiert. Warum das so ist, weiss niemand so genau. Fordern Frauen weniger Geld? Traut man ihnen nicht zu, ein teures Projekt zu stemmen? Trauen sie es sich selber nicht zu? Bekommen sie Kinder und haben dann keine Zeit den Film, weil ihre Männer keine Teilzeitjobs annehmen können oder wollen? Irgendwohin müssen die vielen Abgängerinnen der Filmschulen ja verschwinden.

Wenn Frauen Filme machen, auch das zeigt die Studie, dann sind sie erfolgreicher an Festivals und beliebter beim Publikum. 2006 Andrea Staka den Goldenen Leoparden für «Das Fräulein». 2009 war Ursula Meiers «Home» für den César nominiert und wurde in Cannes gezeigt, mit «L'enfant d'en haut» gewann sie an der Berlinale einen Silbernen Bären und soeben wurde sie in die Oscar-Academy aufgenommen. Frauen haben also nicht weniger Talent als Männer, aber weniger Chancen, dieses Talent auch unter Beweis zu stellen. Das wollen sie ändern. Während die Produzenten, Verleiher und Festivaldirektoren einander gegenseitig die Schuld für die erfolglosen Schweizerfilme zuschieben und jeden Vorschlag der Veränderung sofort verwerfen, herrscht bei den Frauen Aufbruchstimmung.

Die Gründerinnen von SWAN haben Julie Corman eingeladen, eine erfolgreiche US-Produzentin, die auch einen Grossteil der Filme ihres Gatten, dem Kultfilmer Roger Corman, produziert hat, z.B. «In silencio dei prosciutti» «Braindead» oder «Nowhere to Run». Die Frau um die 70 ist Mitglied von «Women in Film» und dem «International Women’s Forum». Sie erzählt von ihren Erfahrungen mit ihrer Firma «New World Pictures». Aber statt bloss über Probleme zu jammern, mit denen sie ihr Leben lang konfrontiert war, gibt sie den anwesenden Regisseurinnen, Produzentinnen, Schauspierinnen, Cutterinnen und Autorinnen Tipps, wie man es schafft, gute Filme zu machen:

- Am wichtigsten ist Leidenschaft. Film muss immer an erster Stelle stehen in deinem Leben. Du wirst alle deine Zeit opfern und wenig Geld verdienen. Aber das darf dich nicht hindern.

- Du musst etwas zu sagen haben. Lies, geh auf Reisen. Es ist egal, woher du die Erfahrungen nimmst.

- Lerne die anderen Metiers im Filmbusiness kennen, damit du weisst, was Filmemachen für Schauspieler, Beleuchter, Cutter bedeutet.

- Du brauchst ein brillantes Skript und einen brillanten Film, der kann auch mit dem iPhone gemacht sein.

- Geh auf Set-Besuch. Arbeite mit als Assistentin, auch ohne Geld. Erfahrungen sind wichtiger.

- Du brauchst eine sehr gute Schauspielerin oder Schauspieler.

- Such nach Sponsoren, auch lokale. Noch besser wäre natürlich ein Produzent. (Aber wenn du dem Produzenten sagen kannst: Ich hab schon so und soviel Geld beisammen, umso besser.)

- Networke. Immer.

- Such dir einen Mentor. Sei Mentor.

Später, als ich im Programmheft nach Filmen für den Nachmittag suche, fällt mir auf, dass die mit Abstand besten, die ich bis jetzt gesehen habe, von Frauen gemacht waren: Da ist einerseits «Slava» von Kristina Grozeva, die zusammen mit Petar Valchanov das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hat. Die bulgarisch-griechische Ko-Produktion erzählt von einem Angestellten einer Bahngesellschaft, der auf den Gleisen einen Haufen Geld findet, es zurückgibt und seine Ehrlichkeit bald bitter bereut. Aber nicht, weil er das Geld für sich hätte brauchen können. Mein Sitznachbar im Kino, zufälligerweise ein Bulgare, meinte danach mit bitterer Stimme: «Ja, das trifft die Zustände in unserem Land ziemlich genau.»

Der zweite Höhepunkt war «Raving Iran» von Susanne Meures. Die Absolventin der  ZHdK hat für ihren Diplomfilm Kopf und Kragen riskiert, um aus dem Leben von zwei iranischen DJs zu erzählen. Alles, was die zwei möchten, ist, an Rave-Partys ihre Musik zu spielen zu dürfen. Aber in ihrer Heimat ist das nicht nur sehr kompliziert, sondern unter Umständen auch lebensgefährlich. Der Film gibt so unmittelbare Einblicke ins Leben unter dem iranischen Regime wie bisher kaum ein anderer Film. Seit seiner Uraufführung am Visions du réel in Nyon wird der Film auf Festivals rund um den Globus gefeiert.

Von solchen Filmen will ich mehr. Nicht Schellen-Urslis, Heidis und Missen Massaker. Warum sollte sich irgendeine Jury auf der Welt für unsere Kinderbuchhelden interessieren, die allesamt Abbilder einer reaktionären Welt sind? Ich will Filme sehen, an die Schmerzgrenze gehen, die überraschen, die mir etwas vor Augen führen, das ich zu kennen glaubte, und das ich danach anders betrachten muss. Aber solche Filme werden nicht entstehen, solange man bloss Probleme diskutiert und panisch auf Reformen reagiert. «Stürmen wir die Bastionen!», rief Julie Corman am Ende ihrer Rede aus. Auch die wenigen Männer, die zum SWAN-Frühstück gekommen waren, klatschten mit.

Vielleicht werden es die Frauen sein, die das hässliche Entlein ‚Schweizer Film’ zum schönen Schwan gedeihen lassen. Ihn beim einheimischen Publikum beliebter machen und ihm zu der internationalen Ausstrahlung verhelfen, die ihm seit Jahrzehnten fehlt.

 

Nach der Veröffentlichung der Studie (getragen von FOCAL, vom Verband Filmregie und Drehbuch Schweiz ARF/FDS und Cinésuisse) gründeten Ursula Häberlin, Nicole Schroeder, Stéphanie Mitchell, Gabriel Baur, Britta Rinderlaub und Eva Vitija das Netzwerk SWAN. Auch mit dabei: Rachel Schmid, Botschafterin für das European Women's Audiovisual Network EWA und Vertreterin für die Schweiz bei Eurimages.

SWAN will die Präsenz der Frauen in der Schweizer Filmbranche stärken und ein Netzwerk schaffen für einen besseren Gedanken- und Erfahrungsaustausch. Sie wollen die Diskussion rund um die Genderfrage in der Filmindustrie vertiefen, darum steht das Netzwerk allen offen, Frauen wie Männern.

 

 

Erschienen am 7. August 2016 auf frame.ch (Festivalblog Locarno)

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