«Gefangen im Netz»: Wie Kinder online missbraucht werden

Der tschechische Dokumentarfilm über Cyber-Grooming, den sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet, ist schwer zu ertragen. Sehen muss man ihn trotzdem, weil er nüchtern und ohne Sensationslust dringend notwendige Aufklärungsarbeit leistet.

Kaum sind die Profile der 12-jährigen Mädchen Nikola, Tyna und Michaela online, nehmen Männer auch schon mit ihnen Kontakt auf. Die wollen aber nicht chatten. Die meisten versuchen, die Mädchen zu sexuellen Handlungen zu überreden. Sie wollen, dass sie sich ausziehen, dass sie gemeinsam mit ihnen masturbieren, oder sie schicken ihnen pornografisches Material.

Doch was diese Männer nicht wissen: Nikola, Tyna und Michaela sind in Wahrheit keine Mädchen, sondern volljährige Schauspielerinnen und die Protagonistinnen im Dokumentarfilm «Gefangen im Netz» des tschechischen Regieduos Barbora Chalupova und Vit Klusak. Ihr Film ist das Resultat eines Experiments, das sie zum Cyber-Grooming durchgeführt haben, dem Missbrauch von Kindern im Internet.

Danach gefragt, was sie dazu bewegt habe, einen Film über dieses Thema zu machen, antworten Chalupova und Klusak, das Experiment habe 2017 seinen Anfang genommen: «Vit wurde vom Telekomanbieter O2 darum gebeten, ein Video zum Problem des Missbrauchs von Kindern im Internet zu drehen.» Ihre Recherche mit einem gefälschten Profil einer 12-Jährigen habe dann schnell so viel und so erschreckendes Material ergeben, dass sie beschlossen, daraus einen abendfüllenden Film zu machen.

Abstossend und tragikomisch

Chalupova und Klusak erzählen linear in «Gefangen im Netz». Sie lassen ihr Publikum in einer Art simulierter Echtzeit an der Entwicklung ihres Versuchs teilhaben. Und in jeder Minute geschieht etwas, womit man nicht gerechnet hat oder von dem man hoffte, es würde nicht eintreten.

Das fängt schon an beim Casting. Von den 23 Frauen, die für eine der drei Rollen vorsprechen, haben 19 in ihrer Kindheit Erfahrungen mit Cyber-Grooming gemacht. Dass nur Frauen gecastet wurden, liegt daran, dass sich kein volljähriger Mann fand, der einen 12-Jährigen hätte spielen können. Denn auch Buben werden Opfer von Cyber-Grooming.

In Tschechien, wo sich 60 Prozent der Kinder unbeaufsichtigt im Internet bewegten, hätten 40 Prozent davon schon solchen Missbrauch erlebt, so heisst es am Anfang des Films. In der Schweiz gab es 2020 laut Polizeistatistik 283 Fälle von «Cyber-Sexualdelikten». Knapp 80 Prozent der Opfer waren Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren.

Während das Casting läuft, werden im Studio die Zimmer von Nikola, Tyna und Michaela aufgebaut, die schliesslich von Sabina Dlouha, Anezka Pithartova und Tereza Tezka gespielt werden. Die jungen Frauen statten die Räume mit Gegenständen und Fotos aus ihrer eigenen Kindheit aus. So entsteht ein buntes Labor, wo man im Folgenden in dunkelste Abgründe schaut.

Bevor es losgeht, legt das Team auf Websites wie Facebook Fake-Profile für Nikola, Tyna und Michaela an und stellt Verhaltensregeln auf, die am Anfang des Films eingeblendet werden, etwa: nur antworten, nicht flirten. Am Anfang jedes Gesprächs betonen, dass man erst zwölf sei.

<iframe id="adnz_ggl_adnz_content_3" title="Advertisement" width="0px" height="0px" frameborder="0" marginwidth="0px" marginheight="0px" scrolling="no" data-cmp-info="7"></iframe>Sexuelle Aufforderungen ausweichend beantworten. Nacktbilder erst nach wiederholten Anfragen schicken. Die Nacktbilder, die die «Mädchen» später verschicken werden, sind mithilfe von Aktmodellen und Photoshop entstanden.

Im Film wiederholt sich, was Chalupova und Klusak bei ihrer Recherche bereits erlebt haben: Kaum sind die Profile der Mädchen aufgeschaltet, werden sie angechattet.

Dass das derart schnell geht, erklärt das Regieteam damit, dass solche Täter fast ständig online seien und beobachten würden, ob irgendwo ein neues Profil auftauche. «Wir hatten auch den Verdacht, dass es ein Forum im Darknet gibt, wo die Männer ihre neuen Opfer untereinander weitergeben», sagen sie. «Viele haben mehrere Profile und erinnern sich gar nicht daran, wenn sie ein Mädchen schon einmal angesprochen haben.»

Was die drei Darstellerinnen im Lauf des Films erleben, reicht von tragikomisch bis abstossend. So widerlich und auch kriminell das Verhalten fast aller dieser Männer ist, so jämmerlich oder lächerlich wirken sie bisweilen, wenn sie mit Fistelstimme versuchen, das Vertrauen der irritierten Mädchen zu gewinnen, Interesse an ihren Gefühlen vorgaukeln und ihnen schmeicheln, nur um sie davon abzuhalten, dass sie den Chat zu früh beenden. Andere sind direkter: «Zieh dein T-Shirt aus!» – «Zeig mir deine Brüste!» – «Wenn du dich nicht ausziehst, stelle ich das Foto von dir ins Internet!»

Immer wieder sieht man die Schauspielerinnen erschrocken zurückweichen, sobald sie einen Skype-Anruf entgegennehmen. Man ist froh zu sehen, dass im Hintergrund ein Team bereitsteht, das sie psychologisch und auch juristisch begleitet und berät.

Für einen selbst ist es unmöglich, nach «Gefangen im Netz» Skype zu benutzen, ohne an die Bilder zu denken, die man gesehen hat: die oft ratlosen Gesichter der Darstellerinnen, die verfremdeten Männergesichter, verpixelte Penisse, direkt in die Kamera gehalten. Je mehr davon man im Verlauf des Films sieht, desto mehr kommen sie einem vor wie Waffen aus Fleisch.

«Diese Männer denken, wenn ein Mädchen keinen Widerstand leistet, dann wolle es das auch», erklärt eine Sexualwissenschafterin den drei Darstellerinnen einmal, die über das Verhalten ihrer Gegenüber ratlos sind. «Die Männer vergessen, dass die Kinder aus Angst nichts sagen, und deuten den fehlenden Widerstand als Zustimmung.»

Von den 2458 Männern, die mit Nikola, Tyna und Michaela Kontakt aufgenommen hatten, haben 21 die «Mädchen» dann auch in einem Café getroffen, begleitet und heimlich überwacht vom Filmteam.

50 von ihnen konnten strafrechtlich verfolgt werden, weil Chalupova und Klusak ihr Material der Polizei übergeben hatten. «Als einige der Männer unseren Schauspielerinnen Pornos mit Kindern und mit Tieren geschickt hatten, war klar, dass wir das nicht für uns behalten durften», sagen sie. Die meisten der Täter erhielten Strafen auf Bewährung.

Reden statt Verbote aussprechen

Was man in diesem Dokumentarfilm sieht, verursacht schlechte Träume und lässt einen an der Beschaffenheit der menschlichen Natur zweifeln. Oft möchte man am liebsten wegschauen. Aber genau das ist das Problem: Diese Form des Missbrauchs ist sehr weit verbreitet, während das Tun der Täter so gut wie unsichtbar bleibt.

Es ist viel die Rede davon, dass Kinder und Jugendliche online zu leicht an Pornografie herankommen. Dass sie Videos untereinander teilen, die nicht für ihre Augen bestimmt sind. Dass Pornografie die Aufklärung ersetzt und damit die Entwicklung ihrer Sexualität beeinträchtigt, weil diese Bilder abstumpfen, ein falsches Bild von Intimität vermitteln und überholte Geschlechterklischees zementieren.

Dass kaum über Cyber-Grooming geredet wird, dürfte auch daran liegen, dass sich die Kinder schämen, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, was sie auf Skype, Facebook oder Tiktok erleben. Oder sie haben Angst, etwas zu sagen, weil sie von den Tätern erpresst werden.

Was kann man dagegen tun? «Kommunikation ist das Wichtigste», sagen Chalupova und Klusak. «Statt Verbote auszusprechen, sollten Eltern Partner sein für ihre Kinder, Vertrauen herstellen, indem sie mit ihnen über ihre Internetaktivitäten reden. Sie raten, Kinder auf Risikosituationen vorzubereiten, denen sie online begegnen könnten, ihnen auch zu erklären, welchen Wert persönliche Daten haben, vor allem Bilder.

In einer Pause diskutieren die drei Darstellerinnen einmal darüber, was wohl in den Männern vorgeht, mit denen sie hier zu tun haben. Ob die sich je Gedanken darüber machen, was ihr Verhalten in den Seelen ihrer Opfer für Spuren hinterlässt. Der Schluss des Films legt das Gegenteil nahe.

 

Zuerst erschienen am 3. 6. 2021 in der «NZZ am Sonntag». (Bild: Ascot Elite)