Gegen den Nazikitsch
«The Zone of Interest» ist ein Film gegen das Vergessen, gerade weil er die Naziverbrechen nicht zeigt. Das funktioniert nur, solange die realen Bilder über den Holocaust im kollektiven Gedächtnis noch existieren. Diese werden aber zunehmend von Bildern überlagert, die das Kino schuf.
«Schindler’s List» sei Kitsch, urteilt der ungarische Autor und Holocaustüberlebende Imre Kertész in seinem Essay «Wem gehört Auschwitz?». Der Preis dafür, dass der Holocaust Teil des öffentlichen Bewusstseins wurde, sei «eine Stilisierung, die heute schon fast unerträgliche Ausmasse annimmt». Er fragt: «Warum soll ich als Überlebender mich darüber freuen, dass immer mehr Menschen diese Erfahrungen auf der Leinwand sehen – und zwar verfälscht?» Verfälscht wie in «Schindler’s List» von Steven Spielberg.
Diese Heldengeschichte wurde Mitte der neunziger Jahre zum Grosserfolg, Spielbergs ästhetisierte Darstellung der Naziverbrechen stilbildend, und er machte für Holocaust-Filme die Botschaft zur Norm, dass die Menschlichkeit auch dann siegt, wenn Unmenschlichstes geschehen ist.
Filmindustrie und auch Literatur produzieren seit Jahrzehnten in grosser Zahl solchen Kitsch. Es gibt je nach Quelle 4000 bis 5000 Filme über den Zweiten Weltkrieg. Auch heute vergeht kaum eine Woche, ohne dass eine Serie oder ein Film zu dieser Epoche anlaufen würde.
Warum reisst das Interesse nicht ab? Die ökonomische Erklärung ist: Nazis sind dankbare Bösewichte. Sie versprechen dem Film Aufmerksamkeit, dem Publikum gewichtige Unterhaltung und den Filmemachern Oscars.
Eine andere Erklärung: «Es gibt es noch Menschen, die dabei waren. Nachkommen von Überlebenden, mit deren Erzählungen wir gross geworden sind. Aber vor allem ist es wohl die Frage, wie es zu Verbrechen von solchem Ausmass kommen konnte.» Das sagt Christian Friedel, der in «The Zone of Interest» Rudolf Höss spielt, den Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz.
Das neue Werk des Briten Jonathan Glazer ist das nüchterne, kalte Gegenteil von gutgemeinten, aber sentimentalen Aufklärungsfilmen wie «Schindler’s List» oder «The Boy in the Striped Pyjamas».
«The Zone of Interest» ist ein besonders eindrückliches Werk über den Holocaust, gerade weil er Erwartungen an diese Sorte Film unterläuft. Und zwar von der ersten Minute an: Die Leinwand ist schwarz. Tiefe, wummernde Klänge füllen das Kino. In weisser Schrift erscheint der Titel «The Zone of Interest», dann fransen die Buchstaben aus, verwehen wie Asche im Wind. Wieder ist man umschlossen von der Dunkelheit und dem Wummern. Raum und Zeit verschwimmen. Dann ein Schnitt.
Vogelgezwitscher, eine Familie beim Bad im Fluss. Es sind Rudolf Höss (Christian Friedel), seine Frau Hedwig (Sandra Hüller) und ihre fünf Kinder. Als ein Gewitter naht, kehren sie zurück in ihr Haus mit dem grossen Garten voller Blumen und Gemüse, Hedwigs Stolz. Die Gartenmauer, an der die Pflanzen hochklettern, grenzt ihr Paradies ab von der Hölle des Konzentrationslagers Auschwitz, wo ihr Mann Rudolf jeden Tag die Vernichtung von Tausenden Menschen beaufsichtigt.
Glazer zeigt nie, was jenseits der Mauer geschieht, aber er lässt es uns hören. Tag und Nacht erfüllen Schreie, Schüsse, Hundegebell und ein Wummern und Dröhnen der Krematorien die Luft. Den Geruch über Höss’ Paradiesgarten kann man sich nicht vorstellen. Die Brutalität lässt Glazer nur in Momenten im und ums Höss-Haus aufflackern: Wenn ein jüdischer Sklave Höss’ Stiefel wäscht und Dreck und Blut von den Sohlen rinnen. Oder wenn Höss im Wohnzimmer mit Ingenieuren Pläne für ein noch leistungsfähigeres Krematorium bespricht.
«Billige Warenartikel»
Jonathan Glazer wollte «keine ausgemergelten Komparsen, um die Bilder, die wir kennen, zu rekonstruieren», wie Christian Friedel sagt. Zu viele andere versuchen, die Verbrechen und das Leid möglichst detailreich nachzustellen, um eine Authentizität zu simulieren, die aber niemals erreicht werden kann.
Im Vergleich mit dem achtstündigen Dokumentarfilm «Shoah» (1985) von Claude Lanzmann, in dem Überlebende und auch Mittäter davon erzählen, was in den Konzentrationslagern geschah, wirken solche cineastischen Nachstellversuche nicht nur wie Kitsch, sondern geradezu ekelhaft. Auch «The Zone of Interest» ist nicht Geschichte, sondern erzählt nur von ihr, daher muss auch dieser Film vor dokumentarischen Monumenten verblassen. Aber: Indem Jonathan Glazer die Unmöglichkeit des Zeigens respektiert, würdigt er das Andenken an Opfer und Überlebende, statt sich deren Erinnerungen filmisch anzueignen.
Das Nicht-Zeigen macht «The Zone of Interest» zur Warnung vor dem Vergessen. Das ist das Faszinierende daran und zugleich das Problematische. Denn dieser Film funktioniert nur, solange das Wissen um die Berichte von Überlebenden und die dokumentarischen Bilder im kollektiven Gedächtnis noch existieren.
Laut Studien verblasst das Wissen über den Holocaust – wie die Titelschrift im Vorspann von «The Zone of Interest». Während das Wissen abnimmt, steigt aber das Interesse der jungen Generation am Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg.
Die Frage ist nur, womit Interessierte ihre Neugierde stillen. Gerade jetzt, wo Hunderttausende in Deutschland gegen Rechtsextremismus auf die Strasse gehen. Was passiert mit «Nie wieder», sobald die letzten Überlebenden sterben und die dokumentarischen Aufnahmen überlagert werden von Bildern, die die Kinoindustrie mit ihrer Massenproduktion von Filmen über den Zweiten Weltkrieg erschaffen hat. Die Naziverbrechen sind zu «billigen Warenartikeln» geworden, wie Imre Kertész schreibt.
Pop-Kultur und Geschichte vermischen sich bereits so weit, dass Touristen in Krakau auf «Schindler’s List»-Führungen die Strasse besuchen, die als Filmkulisse für das Ghetto diente; vom historischen Ghetto ist fast nichts mehr übrig. Oder dass Arnold Schwarzenegger nach einem Besuch der Gedenkstätte in Auschwitz «I’ll be back» ins Besucherbuch notierte, das «Terminator»-Zitat.
Indem Jonathan Glazer formal und inhaltlich die Erwartungen an einen Holocaust-Film unterläuft, provoziert er eine unerwartete Irritation, weil sein Film unausgesprochen daran erinnert, wie sehr der Nationalsozialismus zum popkulturellen Klischee geworden ist.
Bei ihm ist Höss nicht der sadistische Nazi-Bösewicht in glänzenden Stiefeln. Glazer erzählt von ihm als Täter, aber zeigt ihn nie dabei, wie er mordet, sondern bei banalen Handlungen zu Hause. Er ist ein biederer Familienvater und dumpfer Opportunist, der wie seine Frau Hedwig die Gelegenheiten nützt, die das System ihnen bietet. Endlich sind sie jemand.
Er zeigt auch nicht die jüdischen Opfer als wehrlose Masse, dem Publikum zur Bemitleidung freigegeben. Er deutet sie nur an: Einmal betrachtet ein Höss-Sohn abends im Bett mit Gold geflickte Zähne, die einem ermordeten Juden herausgebrochen wurden. Oder Frau Höss lässt ihre Angestellten sich etwas von der Seidenwäsche nehmen, die ein Bote aus dem KZ vorbeibrachte. Mit einem entwendeten Pelzmantel verschwindet sie selbst in ihr Schlafzimmer und wirft sich darin vor dem Spiegel in Pose.
Es gibt in «The Zone of Interest» kein Gut-böse-Schema, das einem das Denken abnimmt und das Fühlen intensiviert. So wie es das britische Drama «One Life» tut, das im März ins Kino kommt. Es erzählt von Nicholas Winton (Anthony Hopkins), der kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 669 verfolgte Kinder vor den Nazis nach England retten konnte.
«One Life» funktioniert ähnlich wie «Schindler’s List»: Es ist die Geschichte des heldenhaften Retters, und am Schluss treten reale Überlebende auf. Das ist unerträglich sentimental und nichts als Ausdruck der Hilflosigkeit der historischen Realität gegenüber.
Aufklärung oder Action
Während das europäische Kino den Zweiten Weltkrieg verzweifelt aufzuarbeiten versucht, dient er dem amerikanischen oft als Kulisse für patriotische Action- und Heldengeschichten. Die neue Serie «Masters of the Air» auf Apple TV+ etwa, produziert von Tom Hanks und Steven Spielberg, erzählt von einer Kampftruppe der US Air Force, die Angriffe gegen Nazideutschland fliegt. Die Miniserie langweilt, weil sie jedes dramaturgische Klischee bedient. Die hyperästhetischen Bilder lassen kalt. Sie sehen aus wie gemacht für die Selbstpromotion der Schauspieler auf Instagram.
Das Dilemma mit dem Holocaust in Film und Serie ist: Man will aufklären, aber auch eine packende Geschichte erzählen. Dadurch werden die Verbrechen «ein für alle Mal als etwas der menschlichen Natur Fremdes festgemacht», schreibt Imre Kertész. «Der authentische Zeuge ist nur im Weg.»
Auf den tragischen Punkt bringt dies ein amerikanischer Podcaster, als er in seiner «World War II Movie Night» das Drama «Son of Saul» (2015) von László Nemes zusammenfasst und dabei klingt, als ob er eine Abenteuergeschichte erzählen würde. Er beklagt die mangelnde Action. Wenn es um die Gaskammern und den Abtransport von Ermordeten geht, warnt er vor «nudity». Am Ende fragt er sich, warum der Regisseur auf das Langweilige fokussiere, diese Bestattung eines Kindes, während doch das Aufregende geschehe: ein Aufstand im KZ! «You know what I mean?!»
Doch spätestens wenn der Holocaust nur noch zur Unterhaltung dient, entsteht zwischen Kino und Geschichte eine Kluft, die gefährlich ist. «Darum bin ich froh, dass ‹The Zone of Interest› jetzt als anspruchsvoller Film jenseits vom Popcorn-Kino so viel Aufmerksamkeit bekommt», sagt Christian Friedel. «Vielleicht werden sich manche in unserem Business der Verantwortung wieder stärker bewusst, die man der Geschichte gegenüber eigentlich hat.»
Am 8.2.2024 in der «NZZ am Sonntag» erschienen. (Bild: Filmcoopi)