Giacometti als Zirkuspferd
Die Berlinale zeigte mehrere Filme über Künstler und historische Ereignisse. Sie strotzten vor Klischees. Erfundene Geschichten werden der Realität besser gerecht.
Ob Regisseur oder Schauspielerin, fast alle äusserten sich an dieser Berlinale zur Lage der Welt. Gurinder Chadha, Regisseurin des Dramas «Viceroy’s House», sagte: «Mein Film ist eine Erinnerung daran, was passiert, wenn man Hass zwischen den Völkern schürt.» Er handelt vom Ende der britischen Kolonialmacht, der Teilung Indiens und den dadurch ausgelösten Unruhen sowie von der Massenflucht. Stanley Tucci, Regisseur des Dramas «Final Portrait» über Alberto Giacometti, meinte: «Die jetzige US-Regierung kann die Kulturförderung abschaffen, wenn ihr danach ist. Ich glaube nicht, dass unser Film den Präsidenten in irgendeiner Weise berühren wird.»
Das könnte auch am Film liegen. «Final Portrait» ist einer von fünf Beiträgen aus der Wettbewerbsreihe, die von Künstlern oder historischen Figuren – allesamt Männer – erzählen und bei der Darstellung der jeweiligen Realität deutlich weniger überzeugen als das Engagement der Künstler bei den Interviews und Pressekonferenzen.
Statt einem das Wesen und die Seele einer Figur näherzubringen, bleiben sie zu oft an der Oberfläche hängen. Während der Protagonist im halb historischen, halb fiktiven Drama «Joaquim» von Marcelo Gomez noch am ehesten wie ein Mensch aus Fleisch und Blut wirkt und man den Kampf des Brasilianers gegen die damaligen portugiesischen Kolonialherren nachvollziehen kann, tritt einem Joseph Beuys im Dokumentarfilm «Beuys» wie das Klischee des schrulligen Künstlers entgegen. Der Regisseur zeigt seinen umstrittenen Protagonisten gänzlich eindimensional.
Den Tiefpunkt markierte an der diesjährigen Berlinale «Final Portrait». Das Drama erzählt von Alberto Giacometti (Geoffrey Rush), der in den Sechzigern in seinem Atelier in Paris ein Porträt des jungen Kunstschriftstellers James Lord (Armie Hammer) malen soll. Lord bleibt aalglatt und hohl. Geoffrey Rush spielt Giacometti mit so viel Übereifer, dass der Künstler wie eine Karikatur seiner selbst wirkt. Wenn Regisseur Stanley Tucci ihn zum zehnten Mal «faaaaggè» (das englische Fluchwort, ausgesprochen mit italienischem Akzent) hinter seiner Leinwand hervor lärmen lässt, bekommt man Mitleid mit ihm. Er wird vorgeführt wie ein Zirkuspferd.
Filmemachern fällt selten Inspirierendes ein, wenn sie Inspiration oder künstlerische Verzweiflung darstellen sollen. Man behilft sich stattdessen mit Dialogen: Giacometti erklärt seinem Modell, er sei «voller Zweifel» und «neurotisch». Wenn das Vorbild nicht mehr lebt und also nicht mehr beobachtet und befragt werden kann, weicht man aus auf Klischees. So ist Giacometti, wie so viele seiner Vorgänger auf der Kinoleinwand, ein Getriebener, der nicht einmal Zeit zum Essen hat, ein schlecht frisierter Schussel in dreckigen Kleidern, ein Egozentriker, ungeduldig und asozial. Der Maler bleibt Schablone und einem am Ende ähnlich fremd wie schon der Gitarrist Django Reinhardt im Eröffnungsfilm dieser Berlinale.
Die britische Regisseurin Gurinder Chadha, die in Interviews zum Widerstand gegen den neuen Rechtsextremismus aufrief, stellte ihrem Drama «Viceroy’s House» den Satz voran: «Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben.» Doch dann erzählt sie die Geschichte über die Teilung Indiens nicht etwa aus der Sicht der Opfer, sondern fokussiert auf das glamouröse Vize-Königspaar Mountbatten (Gillian Anderson und Hugh Bonneville). Die Seite der Verlierer reduziert sie auf eine Liebesgeschichte um ein hinduistisch-muslimisches Paar. So verkommt das tragische historische Ereignis zu royalistischem Kitsch in Bollywood-Optik. Behauptete Authentizität schadet der Glaubwürdigkeit.
Am stärksten waren jene Werke, die die Realität transformieren, statt sie imitieren zu wollen. Filme wie Agnieszka Hollands anarchistisch-feministischer Krimi «Spoor». Er handelt von der tierliebenden Frau Duszejko, die beschliesst, den wildernden Jägern in ihrer Gemeinde an der polnisch-tschechischen Grenze das Handwerk zu legen. Ohne es auszusprechen, reflektiert der Film die gegenwärtige Situation in Polen, seine anti-demokratische Regierung. «In jeder Diktatur sind Frauen, Minderheiten und die Natur die ersten Opfer», sagte Holland in einem Interview. Das zeigt sie in ihrem Film.
Die Ungarin Ildikó Enyedi verwendet in ihrem wundervollen, mal lyrischen, mal absurden Drama «On Body and Soul» Tiere als Metapher für Freiheit. Und Aki Kaurismäki sagte: «In Europa gab es vor 60 Jahren 60 Millionen Flüchtlinge. Damals haben wir geholfen. Heute sehen wir in ihnen Feinde. Wo ist die Menschlichkeit geblieben?» Davon handelt sein tragikomischer Film «The Other Side of Hope», in dem ein Wirt dem papierlosen syrischen Flüchtling Khaled unter die Arme greift. Er erzählt lakonisch wie immer, aber sein Humor wirkt bitterer.
Wenn man dann später in irgendeiner Zeitung die zurzeit üblichen Nachrichten liest, kommen einem Kaurismäkis Khaled und Hollands Duszejko wieder in den Sinn, und es wird einem unwohl. Giacometti, Beuys und die Mountbattens hingegen sind längst vergessen.
Erschienen am 19. Februar in der «NZZ am Sonntag».