Helfen an der Grenze - Tag 3
Jetzt sehen und hören wir selbst, was wir bisher nur aus den Nachrichten gekannt haben.
Montag, 12. Oktober
Über die Autobahn schaffen wir es rein nach Ungarn. In Hegyeshalom schimmert uns an einem verlassenen Grenzübergang das Zelt des Roten Kreuzes Ungarn durch die Dunkelheit entgegen. Dahinter, im schwachen Licht der Strassenlampen, erkenne ich eine Handvoll Zelte von freiwilligen Helfern. Eisiger Wind treibt leere Becher und Pappteller über die Strasse. Einer der Helfer weiss, dass der nächste Zug in etwa 20 Minuten ankommen wird. Wir rennen los. In einer halben Stunde müssen wir unsere Autos entladen und die Tankstelle aufgebaut haben. Ich schleppe Kisten mit Babynahrung, Windeln und Kinderkleidern. Weiter hinten bauen andere eine Feldküche auf. Auf ruft jemand: «Der Zug hat technische Probleme! Wir haben 90 Minuten Zeit!»
Eine der ungarischen Helferinnen erzählt, was sie in der letzten Nacht erlebt hat. Ihre Informationen bewahren uns vor einer logistischen Katastrophe: «Legt nichts aus. Gebt alles selber raus. Sagt nein zu den jungen Männern! Die kommen immer als erste und sind noch bei Kräften. Ihr müsst euch auf die Familien konzentrieren, auch wenn es hart ist, nein zu sagen.» Sie erzählt mir, dass sie gestern Kinder über die Grenze ins österreichische Camp getragen habe, wenn die Mütter nicht mehr konnten. Der Weg führe dort hinten, neben unserer Küche vorbeit, etwa 300 Meter durch ein Loch im Zaun. Es habe Grenzwache, aber die liessen einen gewähren. Weil ich das weiss, kann ich später, etwa um zwei Uhr Nachts, selber tun, was sie in der Nacht davor getan hat und trage ein Bündel aus Wolldecken, aus dem es rasselnd hustet, rüber nach Österreich. Zurück bei unserer Tankstelle kommt gerade der zweite Zug an. Die vielen Kleiderspenden, die wir erhalten haben, haben nur für den ersten Zug gereicht, jetzt werden die Kleider bereits knapp. Ausgerechnet jetzt kommen viele Familien. Ich rühre Milchpulver an, zwei Kollegen füllen Fläschchen damit auf. Neben uns rufen andere nach Mützen, Socken, Schals und Kinderschuhen. Manche kommen barfuss, andere in kurzen Hosen, wir haben bald keine Jacken mehr, Schuhe sind schon lange alle weg. Manche der Flüchtlinge haben Erfrierungen, Kinder schlottern am ganzen Körper. Wir wickeln sie in Decken, die Krankenschwestern füttern sie und massieren ihre Hände und Füsse.
Sobald es ruhiger wird, fangen wir an zu sortieren, was übriggeblieben ist. Anja, unsere Chefin, fragt das Rote Kreuz nach Wasser. Sie geben nichts. Sie haben eine Halle voller Material, aber geben nichts heraus, obwohl die Flüchtlinge alle auf unsere Tankstelle zuströmen und sie doch sehen müssten, wie dringend wir ihre Hilfe benötigen würden. Für den dritten Zug, der für fünf Uhr morgens angekündigt ist, haben wir fast nur noch Suppe und Tee. Zum Glück ist das österreichische Camp so nah. Und hoffentlich kommt unser Sattelschlepper rechtzeitig von Serbien nach Ungarn, damit wir für die kommende Nacht wieder genügend Kleider und Schuhe haben. Um vier Uhr morgens, nachdem der ich weiss nicht mehr wievielte Zug vorbei ist, beschliesse ich, aufzugeben. Aber das Einschlafen fällt nicht leicht.
Erschienen im Blick am 13. Oktober 2015.