Helfen an der Grenze - Tag 5
Langsam beginnt die Anspannung der Erschöpfung zu weichen. Aber aufzugeben kommt trotzdem niemandem in den Sinn. Das Leid, vor allem das der Kinder, ist zu gross.
Mittwoch, 14. Oktober
Was ist gestern passiert? Was heute? Hier verliert man das Zeitgefühl. Das Ankommen der Züge strukturiert den Tag und die Nacht. Zwischen den Einsätzen versuchen wir uns zu erholen, schlafen kann niemand richtig. Manche muss man zwingen, endlich Pause zu machen. Wenn man sich zwischen 20:30 und 1 Uhr und zwischen 5 und 10 Uhr nochmals hinlegt, kann man sich recht gut erholen. Inzwischen sind wir recht gut eingespielt: Die eine Gruppe verteilt Kleider, die zweite Babyflaschen, die dritte gibt Suppe aus. Gestern am Vormittag sei auf einmal der Bürgermeister von Hegyeshalom aufgetaucht, erzählt mir eine der Helferinnen: «Er sagte, es sei illegal, was wir hier täten, wir dürften nicht kochen, nur Tee verteilen. Wir haben ganz höflich ja gesagt zu allem, dann liess er uns in Ruhe.» Natürlich geben wir weiter Suppe aus. Ich habe den Eindruck, dass immer mehr Flüchtlinge hier ankommen. Das Gedränge an unserem Kleiderstand wird grösser, wir quetschen uns aneinander vorbei, um passende Hosen, Jacken, Mützen, Handschuhe zu finden. Männerschuhe haben wir immer zuwenig. Kinderschuhe auch.
Mitten im Gedränge ziehe ich zusammen mit den Müttern Kinder um. Nasse Schuhe und Socken weg, das Jäckchen weg. Darunter ist auch der Pulli nass, weg damit. «Wo sind die Baby-Strumpfhosen? Wo hat’s noch Mützen?» oder «What size? Bigger? Smaller? Ok? Ok? Sorry, no more men’s shoes» rufe ich Tag und Nacht, so habe ich das Gefühl. Zum Glück ist inzwischen der Sattelschlepper angekommen. Wie wir das Material sortieren sollen, weiss noch keiner. Wir haben keine Lagerhalle wie das Rote Kreuz. Wir brauchen ein Dach, ein grosses Zelt, denn bald soll der Regen kommen.
Mittlerweile beginnt die Nervosität bei vielen der Erschöpfung zu weichen. Als ich am Abend im «Schnipselraum», dem einzigen warmen Ort, Kartoffeln und Zwiebeln schneide, führt einer der Helfer eine Kollegin am Arm herein. «Passt auf sie auf, sie hatte einen kleinen Zusammenbruch», sagt er. Sie setzt sich kurz hin, will uns dann helfen, aber ihre Hände zittern so stark, dass sie kein Messer halten kann. Es ist sehr schwierig zu ertragen, was man hier fast pausenlos sieht. Solange ich im Einsatz bin, geht’s. Manchmal habe ich einen Kloss im Hals, wenn ich Kinder sehe, die apathisch sind vor Kälte oder ohnmächtig. Die vor Hunger nicht essen mögen. Aber auch, wenn sie trotz allem lachen und spielen, wie die Kleinen aus dem Iran gestern. Oder war es vorgestern? Sobald ich vom Platz weglaufe, kommen die Tränen.
Gekürzt erschienen im Blick am 15. Oktober