Helfen an der Grenze - Tag 6
«Taxi! For women with children! Taxi! For families! No money!»
Donnerstag, 15. Oktober
Letzte Nacht war ich mit unserem Shuttle-Team im Einsatz. Slowakische Sanitäter, die seit einem Monat als Freiwillige vor Ort, geben uns jeweils Bescheid, wann der nächste Zug ankommen wird. Der nächste – der wievielte heute? – , soll um 2 Uhr da sein. Wir fahren die fünf Kilometer bis zum Bahnhof und warten in einer Seitenstrasse darauf, dass die Flüchtlinge aussteigen. Die ungarische Polizei steht schon da, die Slowaken mit der Ambulanz auch. Weil wir diesmal mit drei statt zwei Shuttle-Autos da sind, müssen wir der Polizei Bescheid geben. «Sonst riskieren wir, dass sie uns plötzlich verscheuchen», sagt eine der Fahrerinnen. Man müsse ihnen das Gefühl geben, man respektiere ihre Autorität. Sie wollten diejenigen sein, die die Ströme von Flüchtlingen auf die Landstrasse in Richtung Grenze leiten.
Es ist also heikel «Taxi! For women with children! Taxi! For families! No money!» in die sich endlich in Bewegung setzende Menschenmenge hineinzurufen und jene aus der Schlange zu ziehen, denen man ansieht, dass sie den Weg zu Fuss kaum mehr schaffen. Wir laden so viele Kinder, Alte und Schwangere in unseren Van, die reinpassen und achten darauf, dass wir keine Familien trennen. Im Dunkeln ist es schwieriger für sie, einander wiederzufinden. Unterwegs überholen wir die jungen Männer, die voranrennen. Wir laden die erste Gruppe aus bei unserem Camp, fahren dann mehrmals hin und her, rufen wieder «Taxi! For women with children! Taxi! For families! No money!» in die Menschenschlange. Bei der letzten Fahrt sehen wir eine alte Frau am Strassenrand sitzen, ihr Sohn steht neben ihr und die ungarischen Polizisten, die das Schlusslicht des Zuges bilden. Sie kann sich nicht allein aufrecht halten und atmet schwer. Er hat einen rasselnden Husten. Ich frage die Polizisten, ob sie uns helfen könnten, die Frau zu uns ins Auto zu setzen. Sie machen keinen Wank. Zum Glück kommen im nächsten Moment die Slowaken mit der Ambulanz und laden sie auf. Unsere Shuttle-Autos sind für die Helfer in auf dem Platz das Zeichen, dass es wieder losgeht. Es werden für diese Nacht noch zwei weitere Züge erwartet. Es geht das Gerücht, sie würden beide fast 2000 Menschen bringen. Meine Kollegin ist völlig am Ende, hat einen heissen Kopf, lässt sich aber nicht dazu bewegen, sich endlich mal schlafen zu legen.
Ich weiss, dass ich den zweiten und dritten Nachtzug nicht mehr schaffen werde und ziehe mich zurück. Es ist halb fünf am Morgen, aber einschlafen kann ich nicht. Ich habe immer noch die Stimmen von Helferinnen im Ohr, die von Frostbeulen erzählt haben, die sie notdürftig zu behandeln versuchten. Von Knochenbrüchen. Ich sehe den Mann im Rollstuhl vor mir, mit nackten, verdrehten Füssen. Die Kinder, die ich am Nachmittag gemeinsam mit deren Müttern aus nassen Kleidern geschält und eilends in etwas Trockenes gehüllt habe. Diejenigen, die geschrien haben vor Schmerz, wenn unserer Helferinnen ihnen die nassen Socken von den wunden Füssen ziehen wollten. Die Kisten voller Kinderschuhe, in denen wir wühlen und nie die passende Grösse finden. Die drängelnden Männer vor unserem Kleiderzelt, Hände, die mich am Arm packen: «Miss! Miss! Shoes! Please!» Sie heben einen Fuss und zeigen auf durchnässte Turnschuhe, von denen sich die Sohle abgelöst hat. Aber wir haben keine Schuhe mehr.
Gekürzt erschienen im Blick am 16. Oktober.