«Hey, Sexy»
Tinder ist zur Zeit die beliebteste Dating-App für Seitenspringer, Liebeshungrige und Prostituierte. Viele suchen nach schnellem Sex – doch manche finden mehr.
Wer nicht fotogen ist, hat hier keine Chance. Es zählt nur das eine: wie man aussieht. Gemeinsamkeiten entdeckt man später, wenn überhaupt. Für Caroline, 37, aus London, ist Tinder mittlerweile ein Spiel. Tarzisius, 27, aus Rheinfelden, hat sich die Dating-App vor kurzem aufs Smartphone geladen und ist erfolgreich damit: In drei Monaten hat er sieben Frauen getroffen. Vier wollten Sex. Zwei wollten ihn kennenlernen. Die letzte war perfekt und ist es heute noch.
Tinder, auf Deutsch «Zunder», ist zurzeit sehr beliebt bei Singles und solchen, die sich dafür ausgeben. Die App ist gratis, viel anonymer und einfacher zu bedienen als herkömmliche Partnerplattformen wie Parship.ch oder Elitepartner.ch. Man muss keine seitenlangen Fragebogen ausfüllen, und weil es auf dem Smartphone läuft, kann man jederzeit darauf zugreifen: im Zug, bei der Arbeit, auf dem Klo. Man trifft nur auf Leute aus der Umgebung, und statt dass man die Entscheidung einem Algorithmus überlässt, wählt man seine potenziellen Partner selber aus. Schnell und nur aufgrund von Fotos. Die Schönen wischt man über den Bildschirm nach rechts, alle anderen nach links, wo sie verschwinden. Zweite Chancen gibt es hier nicht.
«Natürlich ist das oberflächlich», sagt Caroline. «Andererseits entscheidet man auch im realen Leben auf den ersten Blick, ob einem jemand gefällt oder nicht.» Aber im realen Leben ist es schwieriger, miteinander in Kontakt zu kommen. Verstohlene Blicke an der Bar sind zwar aufregend, aber weniger zielführend als das Chat-Fenster, das sich auf Tinder öffnet, sobald man einen sogenannten Match hat. So ein Treffer kommt zustande, wenn man jemanden nach rechts gewischt und derjenige das umgekehrt auch mit dem eigenen Bild getan hat. «Hey», schreiben dann die meisten. «Neu hier?» wirkt bereits originell. «Meine Chats wurden immer relativ schnell persönlich, weil ich ja wirklich etwas über die andere Person erfahren wollte», sagt Tarzisius. «Wenn man die richtigen Fragen stellt und nichts über BH-Grösse, sexuelle Vorlieben oder die Intimrasur der Dame wissen möchte, sind die meisten recht schnell angetan und auch offen», sagt er.
Reich dank Tinder
Wenn Caroline einer mit «Hey, Sexy» anredet oder ihr symbolisierte Küsse schickt, löscht sie ihn wieder. «So ein Einstieg macht klar, dass der nur auf Sex aus ist», sagt sie. Und von denen gebe es viele. Tatsächlich hat Tinder den Ruf, eine Abschlepp-App zu sein. Wer unverbindlichen Sex sucht, wird hier höchstwahrscheinlich fündig. Vorausgesetzt, das Profilbild stimmt. Selbst Prostituierte nutzen Tinder, um Kunden zu finden. Die männlichen unter ihnen posieren gern mit eingeöltem Sixpack. Frauen gehen subtiler vor und sind darum erfolgreicher. «Es soll in London Frauen geben, die dank Tinder Tausende von Pfund verdient haben», sagt Caroline. Tarzisius zählt eine Prostituierte zu seinen spannendsten Tinder-Kontakten. Er hat sie nie getroffen, aber lange mit ihr gechattet. «Es war interessant, weil man sonst ja nicht einfach so mit solchen Frauen in Kontakt kommt. Ich habe Einblick in ihr Leben erhalten, in eine mir völlig fremde Welt.»
Tinder gibt es seit September 2012. Die App kommt, wie schon Facebook, von einem amerikanischen Uni-Campus, diesmal aus Kalifornien. Erfunden hat es der damals 27-jährige Student Jonathan Badeen zusammen mit seinen Freunden Sean Rad und Justin Mateen in einer Start-up-Werkstatt des Internetkonzerns IAC. Er kam auf die Idee, weil er angeblich Probleme damit hatte, Frauen zu treffen. Bald soll eine bessere, aber kostenpflichtige Version folgen. Je nach Quelle hat Tinder heute weltweit zehn bis dreissig Millionen Nutzer, die Erfinder verschweigen die wahren Zahlen. Aber sie geben preis, dass weltweit täglich eine Milliarde Mal über den Bildschirm gewischt wird und es dabei zwölf Millionen Treffer gibt. Das Unternehmen soll mittlerweile 750 Millionen Dollar wert sein. Zum Vergleich: Der Wert von Facebook liegt bei über 100 Milliarden. Dass Tinder sich gegen ähnliche Apps wie OkCupid, Match.com oder den deutschen Konkurrenten Lovoo durchsetzen konnte, dürfte vor allem an der raffiniert einfachen Bedienung liegen.
Digitale Selbstoptimierung
Um sich anzumelden, braucht man nichts als einen Facebook-Account. Allerdings muss man beim Installieren der App akzeptieren, dass Tinder auf dort gespeicherte Informationen wie Name, Alter, Interessen, Bilder und Freundeslisten zugreifen darf. Caroline stört das nicht. Eine Datenspur zu hinterlassen, sei heute normal. «Wenn du das nicht willst, kauf dir kein Smartphone», sagt sie. Andere richten sich extra einen falschen Facebook-Account ein. Aber nicht aus Vorsicht, sondern um diesen entsprechend zu bestücken: mit inszenierten Bildern, falscher Körpergrösse, falschem Alter. Die digitale Selbstoptimierung steigert den Marktwert. Das Risiko, enttarnt zu werden, nimmt man in Kauf. Am Anfang zählen nur die Treffer. Je mehr man hat, desto besser fühlt man sich; sie sind der Indikator für die eigene Attraktivität.
Tarzisius war es zuerst egal, was für Bilder von ihm auf Tinder erscheinen. «Aber als ich gesehen habe, wie diese App funktioniert, habe ich mein Facebook-Profil auf Vordermann gebracht», sagt er. Die Frau, die heute seine Freundin ist, mochte sein Bild – einen schön angerichteten Teller –, weil es sie hungrig machte. «Kein Witz!», sagt er. Nach etwa zwei Wochen dauernden Schreibens, manchmal bis vier Uhr nachts, wollte sie ihn treffen. «Ich hatte Schiss. Wenn du nur schreibst, sieht der andere deine Mängel nicht. Aber ich hatte nichts zu verlieren und habe es gewagt.»
Dass sich zwei schriftlich so gut unterhalten, dass sie sich treffen und kennenlernen wollen, kommt nicht oft vor. Viele Dialoge gehen über das «Hey» nicht hinaus. «Wenn ein Mann das Gespräch startet und es auch aufrechterhält, ist die Wahrscheinlichkeit da, dass etwas daraus wird», sagt Caroline. «Das liegt vermutlich an deren Jagdtrieb. Männer wollen Beute erlegen und nicht gefunden werden.»
Seit Caroline tindert, hat sie sich mit vier Männern getroffen. Mit einem von ihnen war sie knapp fünf Monate liiert. Er war Anwalt, Sänger in einer Band, sah gut aus. Aber er war auch frisch geschieden, verzweifelt und hatte ein Alkoholproblem. Caroline machte Schluss. «Er war nicht an mir interessiert. Er brauchte nur Trost.» Auch die anderen beiden, mit denen sie kurze Beziehungen führte, waren frisch getrennt, auch sie suchten nur nach Ersatz. «Viele der Tinder-Männer wirken etwas verloren», sagt Caroline. Die virtuellen Bilder, die sie von sich konstruieren – cool, sexy, abenteuerlustig –, haben mit der Realität oft wenig zu tun. Tarzisius hat denselben Eindruck von den Frauen. Eine Polizistin wollte bei ihrer Verabredung nur über ihre unglückliche On/Off-Beziehung reden. Die zweite Frau, die ihn treffen wollte, stellte sich als militante Veganerin heraus. «Da habe ich mich gefragt, wieso die einen Koch kennenlernen will, der den ganzen Tag mit Fleisch arbeitet.»
Vor allem Männer löschen die App
Und wie ist es, wenn man selber fallengelassen wird? Wenn ein vielversprechender Dialog plötzlich verstummt oder der Schöne von gestern Nacht aus der Kontaktliste verschwunden ist? «Das ist genauso schlimm, wie wenn du im realen Leben fallengelassen wirst», findet Caroline. «Unser Leben ist so virtuell geworden, dass sich Enttäuschung in der digitalen und der analogen Welt gleich anfühlt.» Tinder ist ein Spiel, der Einsatz sind die Gefühle. Das erträgt nicht jeder. Caroline kennt vor allem Männer, die die App löschen, weil sie die ständigen Enttäuschungen nicht ertragen. Weil die Treffer ausbleiben. Oder die wenigen Frauen, die geschrieben haben, dann doch keine Verabredung wollen.
Für Caroline ist Tinder ein Spiegel unserer Gesellschaft. Man fühle sich nur so gut, wie die anderen einen finden und das mit ihren Likes zum Ausdruck bringen, sagt sie. «Man ist nie zufrieden, immer auf der Suche nach Besseren, Schöneren, und geht darum leichtfertig miteinander um. Man investiert nichts, tauscht einfach aus. Wen man nicht getroffen hat, vergisst man, jeder ist sofort ersetzbar.» Auf dem Rückflug aus ihren letzten Ferien hat Caroline einen Mann kennengelernt. Er lebt nicht in London, aber sie sind immer noch in Kontakt. «Das ist nur darum so, weil wir uns im richtigen Leben kennengelernt und sofort gespürt haben, dass da etwas ist», sagt sie. «Tinder macht dir das zwar vor. Aber es funktioniert nicht.» Sie hat die App trotzdem noch nicht gelöscht. Es macht zu viel Spass. Und wer weiss, was der nächste Treffer bringt. Vielleicht ist der perfekt.
Erschienen in der Weltwoche am 12. Februar 2015