Hochgelobt aber bloss pervers

«Elle» von Paul Verhoeven sollte das Porträt einer selbstbewussten Femme fatale sein. Stattdessen ist ein fragwürdiges Sex-und-Gewalt-Spektakel daraus geworden.

Sex ist ihre Waffe. Sie sind schön, unterkühlt, intelligent. Sie sind selbstbestimmt und wollen Macht: die Femmes fatales. Das Kino war kaum erfunden, schon verfiel es diesem ausserordentlichen Typus Frau, dem Gegenstück zur Hausfrau und Mutter. Theda Bara, Greta Garbo, Hedy Lamarr spielten die ersten berühmten Vamps und Verführerinnen. In den vierziger Jahren, der Zeit des Film noir, folgten Marlene Dietrich, Lauren Bacall, Rita Hayworth, um nur einige wenige zu nennen. Man sagt, die Beliebtheit dieser tödlichen Schönheiten sei die Antwort des Kinos auf die Angst der Männer vor der Befreiung der Frauen, vor der Unabhängigkeit, die sie während des Zweiten Weltkriegs entwickelt hatten.
 
Schön, intelligent, kalt und gefährlich – das ist auch Michèle (Isabelle Huppert), die Hauptfigur in Paul Verhoevens neustem Film «Elle», der auf dem Roman «Oh . . .» von Philippe Djian beruht. Obwohl die Hauptfigur über die Attribute des Vamps verfügt, hat sie mit der Männerphantasie der Femme fatale nichts zu tun. Verhoeven macht vielmehr eine Karikatur aus dieser. Ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sind blosse Behauptung. Ihre Sexualität, die wichtigste Waffe der gefährlichen Frau, wird pathologisiert und damit wertlos.
 
Michèle ist eine wohlhabende Frau Mitte 50, Chefin einer Videospiel-Firma und lebt allein mit ihrer Katze in einem riesigen Haus in Paris. Sie pflegt ein lockeres Verhältnis zu ihrem Ex-Mann, kümmert sich um ihre exaltierte Mutter, die ihren jungen Liebhaber heiraten will, und ebenso um das Leben ihres erwachsenen Sohns, der von seiner Freundin ausgenützt wird. Michèle hat eine Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin, mit der zusammen sie ihre Firma führt. Sie verführt ihren jungen Nachbarn Patrick (Laurent Lafitte) und masturbiert am Fenster, während sie ihn beobachtet, wie er mit seiner fanatisch religiösen Frau Rebecca (Virginie Efira) im Garten Krippenfiguren aufstellt. So weit klingt das noch nach einer Frau, die weiss und macht, was sie will.
 
Aber «Elle» fängt damit an, dass Michèle von einem maskierten Einbrecher vergewaltigt wird. Nachdem sie die Scherben aufgewischt und das Blut von sich abgewaschen hat, tut sie so, als ob nichts gewesen wäre. Als sie ihre Freunde zum Abendessen trifft, sagt sie: «Ich glaube, ich wurde vergewaltigt», und zum Kellner: «Warten Sie bitte noch einen Moment mit dem Champagner.» Die Freunde wollen, dass sie zur Polizei geht, Michèle verlangt nach der Speisekarte.
«Sie weigert sich, ein Opfer zu sein», sagte Isabelle Huppert in einem Interview. Dabei ist ihre Figur ihr Leben lang nichts anderes als ein Opfer gewesen: Michèle ist die Tochter eines Massenmörders, die Medien spekulierten darüber, ob sie, damals noch ein Kind, mit seinen Verbrechen zu tun gehabt habe. Sie wird bis heute verachtet dafür. Man hat den Eindruck, dass Michèle alles in ihrem Leben nur tut, um sich Respekt zu ertrotzen. Sie handelt getrieben von der Angst, von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden. Das ist nicht souverän à la Femme fatale. Verhoeven geht ihrer Angst aber nicht auf den Grund. Er verwendet das Trauma als simple Erklärung für ihre Kälte.
 
Ausgehend von der Vergewaltigung, entfaltet sich ein zwar spannender Thriller, aber die Handlung bekommt einen ekligen Beigeschmack, als Michèle eine Faszination für ihren Angreifer zu entwickeln beginnt, als ihre anfängliche Rachelust einem ebenfalls nicht weiter ergründeten Masochismus weicht. In einer an Verachtung für Frauen schwer zu überbietenden Szene bringt sie sich selber zum Orgasmus, als ihr Peiniger sie in einem Keller erneut vergewaltigt. Statt den Mann zu vernichten – das übernimmt später ihr Sohn –, unterwirft sie sich ihm. – Elsa (Rita Hayworth) in «The Lady from Shanghai» oder Ava (Eva Green) in «Sin City» liessen sich lieber erschiessen.
 
«Eine Frau zu zeigen, die traumatisiert ist von einer Vergewaltigung, wäre melodramatisch und langweilig», sagte Verhoeven in einem Interview. Er finde es «unterhaltsamer», wenn Michèle reagiere mit «Ich wurde vergewaltigt. Aber was soll’s. Bestellen wir uns Drinks und etwas zu essen», wie Verhoeven es ausdrückt. Man liest jetzt in vielen Besprechungen, dass Michèle eine starke Frau sei, so wie Catherine Tramell (Sharon Stone) in «Basic Instinct». Aber diese Frauen sind nicht stark, sondern gestört. Catherine ist eine Mörderin, Michèle eine Soziopathin. Auch die anderen Frauen in «Elle», die einen eigenen Willen haben, haben ihn, weil sie Furien sind. Und als Gegenstück dazu gibt es die fanatisch religiöse Hausfrau Rebecca.
 
Der «Hollywood Reporter» schrieb, «Elle» sei der klügste, ehrlichste und ermutigendste Vergewaltigungsfilm aller Zeiten, weil es nicht nur um Verletzungen, sondern auch um Widerstandsfähigkeit gehe. Das könnte zutreffen, wenn Verhoeven Einblicke gäbe in Michèles Psyche. Dann könnte man nachvollziehen, warum sie auf diese Weise auf die Vergewaltigung reagiert. Aber er bleibt an ihrer kalten Oberfläche haften. Somit ist Michèle nur noch das Abziehbild einer widerstandsfähigen Frau. Verhoeven behauptet, sich für sie zu interessieren, missbraucht sie aber als Statistin für ein weiteres seiner Sex-und-Gewalt-Spektakel.
 
 
Erschienen am 22. Januar 2017 in der NZZ am Sonntag.
(Bild: Sony Pictures Classic)

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