Ich bin doch keine Barbie
Kate Winslet versteht, dass sie nicht nur bei der Produktion von Filmen, sondern auch bei der Vorstellung von weiblicher Schönheit beteiligt ist. Unerreichbaren Idealen setzt sie mit ihren Rollen Realismus entgegen. Wie jetzt im Drama «Lee» über die Kriegsreporterin Lee Miller.
«Glauben Sie mir, nach einem Abend auf dem roten Teppich ziehe ich schon im Auto dieses Kleid aus, nachher sitze ich zu Hause im Pyjama auf dem Sofa, esse Chips und furze. Wie man das halt macht», so erzählte Kate Winslet neulich in einem Podcast. Solche Sätze würde man von amerikanischen Kolleginnen wie Angelina Jolie oder Anne Hathaway eher nicht zu hören bekommen. Die Britin Winslet ist zwar ein Superstar wie diese, aber sie legt Wert darauf, sich nicht wie einer zu benehmen.
Ihr Interesse daran, auf ein Podest gestellt zu werden, ist gleich null, weil der Platz dort oben zur Erfüllung von unerfüllbaren Ansprüchen verpflichtet. Statt elegant sein zu wollen, flucht Winslet lieber und zeigt sich ungeschminkt. Wenn sie sich ins rechte Licht rücken lässt, dann fragt sie, ob man ihr Doppelkinn auch sehe.
Kate Winslet verkörpert eine Entwicklung, die das Filmgeschäft und mit ihm allmählich auch die Gesellschaft seit ein paar Jahren durchmacht. Sie war und ist mit vollem Einsatz selbst daran beteiligt, dass die Vorstellungen davon, wie Frauen auf der Leinwand aussehen sollen, weniger phantasielos sind. Sie hält lächerlichen Schönheitsidealen ungerührt Realismus entgegen. Als Ophelia in Kenneth Branaghs «Hamlet» zeigte sie sich mit unrasierten Achseln, in «Holy Smoke!» von Jane Campion mit unrasierten Beinen und von Anfang an immer wieder nackt, jeweils auch dann, wenn die Geburt eines ihrer drei Kinder nur ein paar Monate zurücklag.
Für die einen ist es immer noch eine Provokation, dass Winslet sich um geltende Idealbilder foutiert. Andere hingegen lässt ihr Anblick auf der Leinwand geradezu aufatmen, weil sie kein zurechtoperierter Plastikmensch ist. Sie hat ein echtes Gesicht, das mit einem Blick oder einer hochgezogenen Augenbraue ebenso laut «Bloody hell!» sagen kann wie mit Worten.
«Kate aus Reading», als die sie sich bis heute fühlt, wie sie in Interviews sagt, stapft von jeher energisch durch ihre Karriere. Mit leicht gebeugtem Rücken und diesem herausfordernden Blick, als ob sie seit dem ersten Casting nie damit aufgehört hätte zu denken: Wartet nur, ich zeige euch allen, was ich draufhabe. Und das tat sie. Fast immer mit eigenwilligen und auch einmal unsympathischen Frauenfiguren. Mit 19 wurde sie für ihre Rolle in «Sense and Sensibility» zum ersten Mal für einen Oscar nominiert, sechs weitere Nominationen kamen seither hinzu, 2009 gewann sie einen für «The Reader», in dem sie eine ehemalige KZ-Aufseherin spielt. Mit 22 machte «Titanic» sie innerhalb von Tagen zum Superstar.
Hollywood, nein danke
Auch wenn Winslet neben grossen Berühmtheiten arbeitete, zur Oberflächlichkeit verführen liess sie sich vom Ruhm trotzdem nie. Im Gegenteil. Sie nützt ihn, um sich für Frauen im Filmgeschäft zu engagieren, die nicht wie Barbies aussehen oder älter als dreissig sind. Und sie wagt dabei auch immer mehr. Ihre besten Rollen sind jene, in denen sie so ungeschönt auftreten kann, wie sie in Interviews klingt. Jüngst etwa in «Ammonite» von Francis Lee als lesbische Paläontologin oder in der Serie «Mare of Easttown» als alleinerziehende, ruppige Detektivin.
Jetzt spielt Winslet in «Lee» die amerikanische Fotografin Lee Miller, eine Frau, die ein Vorbild gewesen sein könnte für sie, denn Miller (1907–1977) folgte furchtlos ihrem Instinkt. Aber anders als Winslet verlor Miller den Halt. Das ehemalige Model aus New York, das in den dreissiger Jahren eine Anhängerin der Surrealisten in Paris war, kehrte als Kriegsreporterin für «Vogue» traumatisiert aus Deutschland zu ihrem zweiten Mann nach London zurück. Sie sprach nie darüber, was sie bei der Befreiung von Dachau und Buchenwald fotografiert hatte, und betäubte mit Alkohol, was man heute eine posttraumatische Belastungsstörung nennen und therapieren würde.
Winslet hätte den Halt verlieren können, wenn sie 1997 nach ihrem gigantischen Erfolg mit «Titanic» als unerfahrene Schauspielerin nach Hollywood gegangen wäre. Wenn Emma Thompson, die sie von «Sense and Sensibility» her kannte, sich nicht schützend zwischen die Boulevardpresse und «Korsett-Kate» gestellt hätte, wie Winslet genannt wurde, nachdem sie in einer Reihe Kostümfilmen mitgespielt hatte. Ihr phantastisches Debüt im Drama «Heavenly Creatures» (1994) von Peter Jackson war bereits vergessen.
Während «Titanic» Million um Million einspielte, fing die Öffentlichkeit damit an, sich über Winslets Körper zu ereifern. Darüber, ob Leonardo DiCaprios Jack neben ihrer Rose auf dieser rettenden Tür nicht doch Platz gehabt hätte. Wäre sie nicht so fett, hätte der arme Kerl nicht in den eisigen Fluten sterben müssen, so das Urteil. Solche Angriffe hielten sie davon ab, nach Hollywood zu gehen. «Ich dachte: Um Gottes willen, wenn die hier in England schon so über mich reden, was würde dann erst in Los Angeles passieren?», so erzählt sie heute. Inzwischen spricht sie darüber, wie sehr sie diese ständige Kritik gekränkt hat, aber auch davon, wie «der ganze Shit sich in Luft auflöste», nachdem sie 1998 mit 23 geheiratet – ihre erste von drei Ehen – und ihr erstes Kind bekommen hatte.
In Hitlers Badewanne
Andere Stars, die Mutter werden, machen Pause oder geben damit an, wie schnell sie ihren Prä-Schwangerschafts-Body wieder zurückerobert haben. Nicht Kate Winslet. Sie lässt sich nicht von Äusserlichkeiten vom Spielen abhalten. 2004 drehte sie Szenen von «Eternal Sunshine of the Spotless Mind» beinahe delirierend vor Schlafentzug, weil ihre Tochter krank war. Das ging, weil sie schon früh auf Independent-Produktionen setzte, statt sich in Hollywood Minderwertigkeitskomplexe einreden zu lassen.
Heute, mit 48, schert sie sich entweder wirklich nicht mehr darum, was andere über sie sagen, oder sie scherzt Verunsicherung versiert weg mit diesem britischen Talent für Selbstironie. Der Komiker Ricky Gervais setzte dieses 2005 in seiner Sitcom «Extras» in Szene, indem Winslet sich in einer Episode selbst spielt. Im Nonnenkostüm klärt sie Kollegen darüber auf, wie man garantiert einen Oscar gewinnt: «Mach einen Film über den Holocaust.» Das war vier Jahre, bevor sie für «The Reader» ihren ersten Oscar gewann.
Um den Holocaust dreht sich nun auch «Lee». Das Drama der Regisseurin Ellen Kuras, die Winslet eigens engagiert hatte, erzählt von jenen Jahren aus Millers Biografie, in denen diese als Fotografin den Krieg und die Verbrechen der Nazis dokumentierte. Damals entstand auch das berühmte Bild von Miller in Hitlers Badewanne, aufgenommen von ihrem Kollegen David Scherman. Auf dem weissen Badezimmerteppich stehen die dreckigen Stiefel, mit denen sie kurz zuvor in Dachau unterwegs war. Millers Zeit als Model und «Muse von Man Ray» lässt Kuras absichtlich aus. Ihre Lee sagt: «Ich mache lieber Bilder, als selbst eines zu sein.»
Winslet spielt diese Frau mit der für sie typischen Entschlossenheit und notwendigen Grobheit. Man ahnt, dass sie in ihrem eigenen Leben Parallelen zu Lee Miller sieht. Auch Winslet kennt den «male gaze», mit dem Regisseure und Kameramänner sie den Blicken von Fremden preisgegeben haben. Sie bereue es, mit Woody Allen und Roman Polanski gearbeitet zu haben, sagte sie einmal. Und sie bereue, dass sie es manchmal doch erlaubt habe, ihren Körper zu sehr zum Objekt machen zu lassen.
Das ist überwunden. Heute gehört Kate Winslet wie Nicole Kidman oder Margot Robbie zu den Schauspielerinnen, die sich als Produzentinnen an ihren Projekten beteiligen und dadurch erheblich mehr Mitspracherecht haben. Die Britin erntet jetzt, wofür sie sich im Lauf ihrer Karriere eingesetzt hat: Keine der Schauspielerinnen, die dieses Jahr Emmys gewonnen haben, ist in den Zwanzigern. «Eine Schauspielerin in den Vierzigern zu sein, ist so viel cooler, als ich es mir je hätte ausmalen können», meinte sie. – Hell, yeah!
Erschienen am 6. 10. 2024 in der «NZZ am Sonntag» Bild: Ascot Elite