«Ikh hob dikh lieb»

Eine orthodoxe Jüdin und ein lebensfroher Atheist wohnen nah beieinander, doch in verschiedenen Welten. Bis die Liebe eine Brücke schlägt.

Meira versteckt vor ihrem Mann die Dinge, die ihr ein wenig Freiheit verschaffen: die Pille und eine Schallplatte von Wendy Rene, die sie sich anhört, sobald sie allein ist. «After laughter comes tears», singt die Soulsängerin, Meira (Hadas Yaron) wiegt sich lächelnd zu der Melodie. Sie ist eine orthodoxe Jüdin und junge Mutter, ­gefangen in ihrem nach strengen Regeln organisierten Haushalt.

Doch sie bricht regelmässig aus, um mit ihrer kleinen Tochter durch die verschneiten Strassen von Mile End, einem multiethnischen Quartier in Montreal, zu spazieren. Eines Tages spricht ein Mann sie an. Es ist Félix (Martin Dubreuil), ein Kanadier, Atheist und Lebenskünstler, dem Familienbande wenig bedeuten. Der Tradition gehorchend, ignoriert ihn Meira. Doch ­etwas ist passiert. Die beiden begegnen einander nun immer öfter auf der Strasse, und immer seltener nur zufällig.

Maxime Giroux, der Regisseur, erkundet in seinem so zärtlichen wie humorvollen Film das Aufeinandertreffen zweier Kulturen, die einander fremd sind. Als er 1996 nach Mile End gezogen sei, hätten ihn seine neuen Nachbarn, die Chassidim, sofort fasziniert, sagte Giroux in einem Interview.

Aus seinen Beobachtungen und Recherchen ist die Geschichte eines Mannes und einer Frau entstanden, die nur ein paar Häuser voneinander entfernt wohnen, aber in verschiedenen Welten leben. Je näher die beiden einander kommen, was ganz sachte geschieht, desto weiter entfernt sich Meira von der Tradition, der sie sich nie zugehörig gefühlt hat. Sie hat nicht die Absicht, ihren Mann zu betrügen. Aber sie will mehr, als er ihr zu bieten hat. Giroux zeigt eine Frau, deren Lust auf Leben ihr den Mut gibt, sich von ihrer Gemeinde loszusagen und auf ­alles zu verzichten, was sie gehabt hat.

Giroux erzählt in naturalistisch an­mutenden Bildern, ganz ohne Kunstlicht. Das vermittelt den Eindruck von Lebensnähe und Intimität. Die Kamera beobachtet die Figuren sehr zurückhaltend, statt sie in Szene zu setzen. Dennoch hat diese ethnische Grenzen überwindende Liebe etwas Märchenhaftes: Meira unternimmt im Grunde eine Reise aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Als sie ihre Perücke aus- und Jeans anzieht, ist sie in Félix’ Welt angekommen. Giroux hält die Oberfläche zwar schlicht. Aber darunter brodelt umso wilder die Leidenschaft. «When you’re in love, you’re happy», singt Wendy Rene. Endlich weiss Meira, was das bedeutet.

 

Erschienen im Züritipp am 17. November.

(Bild: hollywoodreporter.com)

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