Im Paradies der falschen Liebe

In «Paradies:Liebe» von Ulrich Seidel reist eine alternde Wienerin nach Kenia, um sich von Beachboys ein wenig Liebe zu erkaufen. Ein erstaunlich zarter Film des sonst so gnadenlosen Regisseurs.

Wenn man ins Kino geht, tut man das normalerweise in der Absicht, sich unterhalten zu lassen; für ein, zwei Stunden in eine fremde Welt einzutauchen und danach entrückt, amüsiert oder erlöst wieder hinaus auf die Strasse zu treten. Wenn man in Filme von Ulrich Seidl geht, ist alles anders. Der umstrittene Regisseur, 1952 in Wien geboren, setzt dem Zuschauer Welten vor, die so wahr sind, dass man sich beim Abspann wünscht, sie möchten einem fremd geblieben sein. Aber trotzdem muss man hinsehen – menschliche Abgründe faszinieren nun mal. Um Abgründe geht es auch in seinem neusten Spielfilm «Paradies: Liebe», dem ersten Teil seiner Paradies-Trilogie. Aber diesmal schaut man gerne hin. Obwohl entlarvend, wohnt Seidls Blick auf seine Figuren diesmal etwas beinahe Zärtliches bei. Das ist aussergewöhnlich.

Ulrich Seidl wurde bekannt mit schonungslosen Dokumentarfilmen mit selbstredenden Titeln wie «Tierische Liebe» (1995) oder «Models» (1998). Die brachten ihm Preise ein, aber auch den Vorwurf, er stelle Menschen bloss. Dabei gehe es ihm nicht um Entwürdigung, sagt er. Vielmehr darum, die Menschen in ihrer Gebrochenheit zu zeigen. – Was bisher zynisch klang, nach Rechtfertigung für künstlerisch motivierte Schamlosigkeit und Voyeurismus, trifft auf «Paradies: Liebe» endlich zu.

Teresa (Margarethe Tiesel), eine alternde Wienerin, alleinerziehend, dick und unglücklich, reist nach Kenia, um sich dort von den berüchtigten Beachboys zwei Wochen lang ein wenig lieben zu lassen. Als sie ankommt im Hotel ‚Comfort Safari’, wird sie von einer Gruppe erfahrenen Sugarmamas in Empfang genommen, frivolen Weibsbildern, die mit ihren jungen Lovern prahlen und Teresa einweihen in die Vorzüge des afrikanischen Sextourismus: «Die sind verrückt nach dir!» – «Diese Haut, i sags dir! Die riecht wie Kokosnuss! Die willst du die ganze Zeit abschlecken und reinbeissen! Süchtig wirst werden, süchtig, sag i dir!»

Am Anfang ist Teresa zurückhaltend, wagt sich nur bis zur Bar, zusammen mit einer der neuen Freundinnen. Kichernd wie Teenager schäkern sie mit dem Bartender und wollen ihn dazu bringen, ‚Speckschwarte’ korrekt auszusprechen. Seidl, als ob er sich angeschlichen hätte, filmt dazu ihre ausladenden Hintern im bunten Bikini. Mit starrer Kamera, minutenlang.

Später liegt Teresa am Strand, in einer Reihe mit den anderen Hotelgästen. Ein Seil trennt ihren Bereich ab vom Bereich der Beachboys. Diese stehen reglos am Wasser und warten darauf, dass eine den Mut aufbringt und die Grenze übertritt. Sie bieten Schmuck feil. Aber eigentlich sich selbst. Seidl beobachtet diese Wartenden. Genauso reglos wie jene dastehen. In schönen Bildern, die an fotografische Tableaux eines Amateurfotografen erinnern. Und Seidl teilt auf. Hier die einsamen weissen Sugarmamas, dort die armen schwarzen Beachboys – um im Verlauf der Geschichte zu zeigen, dass es nicht ganz so einfach ist, eine eindeutige Trennlinie zu ziehen, im Gegenteil. Die beiden Parteien leben in einem symbiotischen Verhältnis.

Als die sonnengeröteten Film-Freierinnen im Liegestuhl liegen und über Männer, Fettabsaugen, rasierte Achselhöhlen und über die Liebe diskutieren, sagt Teresa: «Ich möchte, dass ein Mann mir in die Augen sieht. Rein ins Schwarze und direkt ins Herz.» Genau das verlangt sie später von Munga (Peter Kuzungu), einem ihrer Lover, nachdem sie ihm mit Gesten, brockenweise Englisch und Deutsch beigebracht hat, wie er sie anfassen soll. «And now, look into my eyes», sagt sie. Teresa weiss, dass er nicht in ihr Herz sieht in diesem Moment, ihn dieses Herz überhaupt nicht interessiert. Aber was solls. Er ist da und wird ihr geben, wonach sie sich seit Jahren gesehnt hat.

Die Männer verkaufen ihre Körper, die Frauen ihren Stolz. Manche schämen sich dafür und bezahlen ihre Toyboys nicht nur für deren Liebesdienste, sondern geben ihr Geld auch für kranke Mütter, bedürftige Schwestern oder verunglückte Brüder her, von denen immer mehr auftauchen, je länger so ein Verhältnis dauert. Elend herrscht auf beiden Seiten, es gibt keine eindeutigen Täter oder Opfer in diesem Paradies der falschen Liebe: Teresa, die Täterin, fällt ihren eigenen Illusionen zum Opfer. Die Opfer werden als Täter entlarvt, weil sie über die Frauen lachen und sich an deren emotionaler Notlage bereichern.

Hier zeigt Seidl die Realität: Jährlich fliegen tausende Frauen – darunter viele Schweizerinnen – nach Kenia, auf der Suche nach exotischer Erotik und Romantik. Sie nehmen sich einen Beachboy zum Liebhaber und lassen sich diese Abenteuer durchaus auch etwas kosten: Konfrontiert mit der Realität ihrer Gespielen geschieht es nicht selten, dass die Frauen diese umsorgen und finanziell unterstützen. Oft jahrelang und in der naiven Hoffnung, sie würden ihnen treu bleiben.

In der Darstellung dieser Symbiose liegt die Kraft des Films: Statt die Figuren vor dem Publikum zu entblössen, spielt Seidl sie diesmal ausschliesslich gegeneinander aus. Er beobachtet sie zwar, aber zurückhaltender als in seinen früheren Filmen und ohne auf sie herabzublicken. So verleiht er den Sugarmamas und ihren gekauften Liebhabern eine Aura von grosser Traurigkeit und Verzweiflung und sorgt beim Zuschauer für Anteilnahme statt Ekel. Anteilnahme an Menschen, die dabei zusehen, wie ihre Hoffnungen und Träume zwischen ihren Fingern hindurchrieseln wie der weisse Sand am Strand von Kenia. Und sich nicht entscheiden können, ob sie lachen oder weinen sollen dazu.

 

(Erschienen in der NZZ am Sonntag, am 7. April 2013)

Zurück