Ins Kino statt in die Kirche

Es laufen so viele Filme über Tod und Krankheit wie noch nie. Das Kino ist der neue Trostspender.

Das Kino ist ein Spiegel. Die Leinwand reflektiert unsere Träume, Hoffnungen und Ängste. Wenn die Theorie des französischen Semiotikers Christian Metz stimmt, dass das Kino eine Maschinerie zur Befriedigung von Publikumsbegehren ist, dann beschäftigen uns seit einigen Jahren Krankheiten sowie das Sterben ganz besonders. Fast wöchentlich läuft ein neuer Film zu diesen Themen an.

In «Truman», «Me, Earl and the Dying Girl», «Halt auf freier Strecke», «Zu Ende leben», «L’écume des jours» sowie in den demnächst im Kino anlaufenden Dramen «Freeheld» und «Miss You Already» stirbt jemand an Krebs, in «Dallas Buyer’s Club» an Aids. «The Theory of Everything» und «Hin und weg» handeln von den Nervenkrankheiten ALS und MS, «Still Alice» von Alzheimer. In «Amour» geht es um das Opfer eines Schlaganfalls, in «Cake» um eine tablettensüchtige Schmerzpatientin. «Hedi Schneider steckt fest» handelt von einer Angstpatientin, «Usfahrt Oerlike» von Sterbehilfe. In «Mia Madre» und in «Song of the Sea» geht es um den Verlust der Mutter.

Verarbeitung von Verlust

In «Louder Than Bombs» wiederum, der zurzeit im Kino läuft, müssen ein Vater (Gabriel Byrne) und seine Söhne Jonah (Jesse Eisenberg) und Conrad (Devin Druid) den Nachlass der Mutter und Ehefrau (Isabelle Huppert) ordnen. Sie war eine berühmte Kriegsfotografin, kam bei einem Autounfall ums Leben. Jetzt sollen ihre Arbeiten in einer Ausstellung gezeigt werden. Der norwegische Regisseur Joachim Trier erzählt zurückhaltend und stark elliptisch, beinahe assoziativ, ähnlich, wie das Erinnern funktioniert. Man schaut den Männern dabei zu, wie sie versuchen, neue Ordnung in ihre verschiedenen Leben zu bringen, wie sie nach neuen Wegen zueinander suchen, die um die Lücke herum führen, die die Tote hinterlassen hat. Die Abwesende ist in ihren Erinnerungen anwesend, für den Zuschauer sichtbar gemacht in kurzen, manchmal träumerisch anmutenden Sequenzen, oft mit unruhig wirkender Kamera aufgenommen, als ob sie selbst für diese schwer fassbar wäre.

Wie kommt es, dass es so viele Filme zu diesen schweren Themen gibt? Der «Tagesspiegel» vermutet, das habe mit einem zunehmend älteren Publikum zu tun. Dieses verlange nach Geschichten, die das Lebensende betreffen. Diesem Argument sind allerdings Filme wie «The Fault In Our Stars» oder «Me, Earl and the Dying Girl» entgegenzuhalten, die von todkranken Teenagern handeln und beim jungen Publikum sehr wohl ankamen.

Naheliegender scheint, dass man sich im Kino immer öfter solchen Themen aussetzt, weil diese im Alltag unangenehm und schwierig zu bereden sind. Und darum umso beunruhigender wirken. Krankheiten, physische wie psychische, und vor allem Todesfälle machen Angst, weil wir keine Worte haben, um den Emotionen, die sie hervorrufen, Ausdruck zu verleihen. Wer keiner Religion angehört – in der Schweiz schon mehr als jeder Fünfte –, dem fehlen Rituale, die Halt geben. Es gibt keinen Gott, zu dem man beten, keinen Priester, an den man sich in der Not wenden könnte in der Hoffnung, dass seine Worte Trost spenden würden.

Aber es gibt das Kino. Dort, im Schutz der Dunkelheit, versunken in einen Sessel, kann man sich wenigstens für die Dauer eines Films den Gefühlen hingeben, die man draussen zu verbergen versucht. Oder verbergen muss, weil sie als Schwäche gedeutet werden: Angst, Trauer, Wut, Verzweiflung. Hier sieht niemand die Tränen. Man ist zwar mit anderen da, aber doch allein. Das Kino ist ein öffentlicher Ort der Intimität, wie Filmwissenschafterin Heide Schlüpmann sagt. Man kann sich fallen lassen, der Film ist das Netz. Während man am Schicksal der Figuren Anteil nimmt, läuft im Kopf vielleicht ein persönlicher Film ab, mit Erlebtem oder ängstlich Antizipiertem. Man gleicht ab, weiss besser, fühlt sich ernst genommen.

Noch vor 20 Jahren, als in der Schweiz über 90 Prozent einer religiösen Gemeinschaft angehörten, galten Filme über Krankheit als Kassengift. Heute, da die Leute Sinnstiftung im Kino suchen, sind sie Kassenschlager. Der Alzheimerfilm «Honig im Kopf» lockte in der Schweiz fast eine halbe Million Besucher ins Kino, «Still Alice» 134 000.

Vielleicht setzt man sich im Kino schlimmen Gefühlen auch darum aus, weil man weiss: Es ist nicht real. Man leidet mit fiktionalen Figuren mit. Weil zu einer solchen Figur immer eine gewisse Distanz bestehen bleibt, kann man sich umso mehr hingeben. Anders als in der Realität könnte man jederzeit gehen, wenn man es nicht mehr aushält. Man wird im Kino nicht unerwartet von Gefühlen überfallen. Man geht, um sich mitreissen zu lassen.

Lebende im Fokus

Hinter den Filmen stecken oft wahre Schicksale. Vielen Regisseuren hat die künstlerische Verarbeitung geholfen, mit dem eigenen Leid zurande zu kommen. So hat Nanni Moretti, der von sich sagt, er sei froh, Atheist zu sein, in «Mia madre» den Tod seiner Mutter verarbeitet. Und Michael Haneke wurde ebenfalls durch das langsame Sterben seiner Mutter zu «Amour» inspiriert.

Tod und Krankheit sind zum Glück nicht immer schwer im Kino. Komödien wie «Love Is All You Need» und «Intouchables» verhandeln Leid mit Witz und Leichtigkeit. Sogar skurril ist, was die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska in «Body» macht. Sie geht das Thema vom Verlust der Mutter mit schwarzem Humor an. Janusz, ein Untersuchungsrichter, hat fast täglich mit Toten zu tun. Er untersucht Verbrechen. So aufmerksam und schlau er an der Arbeit ist, so ratlos ist er angesichts seiner Tochter Olga, die an einer Essstörung leidet, seit die Mutter gestorben ist. Er steckt sie zur Therapie in ein Krankenhaus. Dort lernt Olga die Therapeutin Anna kennen, die angeblich mit Toten in Kontakt treten kann. Anna bietet den beiden ihre Hilfe an, um ihnen über deren Verlust hinwegzuhelfen. Sie kann zwar helfen, aber nicht so, wie man sich das vorgestellt hat.

Werke wie «Body» mögen einen trösten oder Tränen lachen lassen. Aber es sind Unterhaltungs- und keine Dokumentarfilme. Darum stirbt eine Filmfigur meist, wenn sie an Krebs erkrankt. Das ist in dramaturgischer Hinsicht nachvollziehbar, in medizinischer weniger. Krebserkrankungen sind heute zum Glück nicht mehr zwingend tödlich, wie der Film sie oft darstellt. Wie der Spannung zuliebe übertrieben wird, so wird dem Zuschauer zuliebe auch beschönigt: Das Hässliche und Eklige zu sehen, das schwere Krankheit und langsames Sterben mit sich bringen, bleibt einem fast immer erspart. In «Honig im Kopf» von Til Schweiger stirbt Didi Hallervorden als Alzheimerkranker an Herzversagen, bevor sein Leiden undarstellbar würde.

Die Produzenten wollen, dass man trotz der Schwere des Erlebten das Kino mit einem guten Gefühl verlässt. Deshalb stehen am Schluss die Lebenden im Fokus. Und weil die Filme trotz allem immer auch Appelle an Freundschaft und Liebe sind, machen sie es einem leichter, an der Bar oder auf dem Heimweg über etwas zu diskutieren, worüber man vorher wohl nicht geredet hätte.

 

Erschienen am 10. Januar 2016 in der NZZ am Sonntag.

(Bild: cineuropa.org)

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